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Naftali Fürst – 50 Jahre hat er geschwiegen

Naftali Fürst wurde 1932 in Bratislava geboren. In der Hoffnung, der Deportation zu entgehen, entschloss sich die Familie 1942 in das Arbeitslager Sered umzusiedeln. 1944 gelang der Familie die Flucht in das von der deutschen Wehrmacht besetzte Piešťany. Dort wurden sie nach kurzer Zeit verhaftet und nach Sered zurückgeschickt, das inzwischen zu einem Konzentrationslager umgewandelt worden war. Im November 1944 wurde die Familie nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Im Januar 1945 wurde Naftali Fürst auf den „Todesmarsch” nach Buchenwald geschickt. Seine Eltern, sein Bruder und er überlebten den Holocaust und emigrierten schließlich nach Israel. Dort war Naftali Fürst als Fotograf, Fahrlehrer und Werksleiter tätig, bevor er in den Ruhestand ging. Heute lebt er in Haifa, ist Vater der Künstlerin Ronit Fürst und hat vier Enkelkinder. Der folgende Artikel erschien am 30.9.2013 in der israelischen Illustrierten La Isha (deutsch: Für die Frau).

Naftali Fürst –50 Jahre hat er geschwiegen

Obwohl Ronit Fürst die einzige Tochter zweier Shoah-Überlebender ist, wusste die Designerin wenig über die Vergangenheit ihrer Eltern. Dennoch ist eine ihrer frühen Erinnerungen eine gemeinsame Autofahrt mit ihrem Vater, auf der sie verstand, dass die Vergangenheit noch immer lebendig ist - auch für die, die sie lieber vergessen würden. „Es war spät nachts auf einer der Straßen im Norden [Israels], wir fuhren an Afula vorbei, und als mein Vater die entfernten Lichter eines Kibbuz sah, sagte er plötzlich zu mir: ‚Siehst du die Lichter dort? Als Shmulik und ich in der Dunkelheit gingen, haben wir uns gesagt, wenn wir bei den Lichtern ankommen, ist der Fußmarsch zuende - das hat uns die Kraft gegeben, weiterzugehen.’ Obwohl mein Vater mir nichts weiter erklärte, verstand ich, dass er mir in diesem Moment etwas über den Todesmarsch erzählte. Irgendwie wusste ich das und ein schwermütiges Gefühl überkam mich.”

Ronit Fürst (56) ist als Brillen-Designerin sowohl in Israel als auch im Ausland bekannt und erfolgreich. Die farbenfrohe Gestaltung ihrer Brillen spiegelt Ronits Persönlichkeit und Lebensfreude wider. Dies macht ihre Kreationen so begehrenswert. (...)

Ronit ist Mutter von vier Kindern und mit Ehud Bibering verheiratet, der ein Unternehmen leitet. Ihre Kindheit verbrachte sie in Haifa und Givatayim. (...) Über ihre Eltern erzählt Ronit: „Obwohl meine Eltern mit beiden Füßen im Leben standen, gaben sie mir die Freiheit für mein Leben den Weg zu wählen, den ich gerne gehen wollte.“ (...) Nach dem Militärdienst studierte sie an der Kunsthochschule in Ramat Ha'sharon, heiratete und bekam einen Sohn. Einige Jahre später ließ sie sich scheiden und beschloss von da an nur noch das zu tun, was ihr Freude macht. Sie eröffnete daraufhin ein Keramik-Studio in Asar. (...)

Vor zehn Jahren begann Ronit mit der Herstellung von Brillengestellen. Sie erinnert sich: „Ich habe Brillen immer schon gern gemocht, aber was in den Geschäften angeboten wurde, hat mich gelangweilt. Eines Tages kaufte ich mir eine Brille aus durchsichtigem Plastik. Als ich nach Hause kam, setzte ich sie noch einmal auf und musste feststellen, dass ich damit völlig unmöglich aussah. Ich nahm also ein paar Farben und malte das Gestell an. Als ich mit dieser Brille zu einer Ausstellung ging, fragte mich jeder, wo ich diese Brille gekauft habe. Ehud, mein zweiter Mann, meinte daraufhin: ‚Das wird unser nächstes Geschäft’, und ein Jahr später hatten wir die Fabrik.“ (...)

Während die begabte Designerin erfolgreich ihre exotischen Brillen im In- und Ausland vermarktet, gibt es noch einen anderen, wichtigen Teil in ihrem Leben: Vor 20 Jahren nahm ihr Leben eine bedeutende Wendung. Nach einem Besuch von ihrem Vater und dessen Bruder in ihrer Geburtsstadt Bratislava, auf der Suche nach Spuren ihrer Familiengeschichte, verfassten die beiden ein Buch mit ihren Erinnerungen. Dadurch wurde Ronit mit der Vergangenheit ihrer Familie konfrontiert, von der sie bisher nichts gewusst hatte. Die Erinnerungen ihres Vaters schickten sie auf eine Reise in die Vergangenheit, insbesondere, nachdem sich ihr Vater entschloss von den Leiden zu erzählen, die er im Konzentrations- und Vernichtungslager ertragen musste. Seitdem begleitet sie ihn auf den meisten seiner Vortragsreisen ins Ausland, hört ihm wieder und wieder zu, unterstützt ihn und – was ihr das Wichtigste ist – sie steht ihm bei seinen Vorträgen zur Seite.

Wie ist es dazu gekommen, dass Ihr Vater gesprochen hat?

Mein Vater und sein Bruder schrieben eine Art Kurzbiografie, in der sie ihre Leiden und die traumatischen Erlebnisse dokumentierten. Die Schilderungen reichen von dem Augenblick, als ihre Familie auseinandergerissen wurde, bis zu ihrem Wiedersehen nach dem Krieg, nachdem sie die Vernichtungslager und den Todesmarsch überlebt hatten. Bis sie zu diesem Zeitpunkt, haben sie ihre Erfahrungen fast fünfzig Jahre lang für sich behalten. Mein Vater begann eigentlich erst nach dem Tod meines Onkels über alles zu sprechen. Dazu beigetragen hatte auch die Bekanntschaft meines Vaters mit Tova Hegmann, einer pensionierten Lehrerin für Geschichte und Hebräisch, die sich mit der Geschichte der Shoah beschäftigt. Sie lernten sich vor neun Jahren kennen. Die Beziehung zu Tova veränderte meinen Vater und half ihm, sein Schweigen zu brechen. Später sagte er, dass er sich nie hätte vorstellen können, dass seine Erinnerungen auf so großes Interesse stoßen würden.

Jeder Schritt war eine Qual

Naftali Fürst (80) wurde in Bratislava als Sohn eines wohlhabenden Industriellen geboren. Mit dem Einmarsch der Deutschen brach sein Leben, wie das aller europäischen Juden, auseinander.

Er erzählt: „Im März 1942 begannen in der Slowakei die ersten Deportationen. Die Anzahl der Transporte nahm in den folgenden Monaten zu. Mein Vater, der uns retten wollte, meldete sich freiwillig zur Arbeit, in der Tischlerei des Arbeitslagers Sered. Im August 1944 gab es im Lager einen Aufstand gegen die Deutschen, in dessen Verlauf uns die Flucht gelang. Wir kamen bis nach Piešťany und wurden dort von Christen auf einem Dachboden versteckt. Nach einiger Zeit mussten wir uns ein anderes Versteck suchen. Dort wurden meine Mutter und mein Bruder Shmulik entdeckt und der Gestapo übergeben. Kurz darauf wurden auch meine Großmutter und ich gefasst. Wir alle wurden in das Arbeitslager Sered zurückgebracht. Am 2. November 1944 wurden wir nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Dort nahmen wir zum ersten Mal den Geruch von verbrannten Leichen wahr.

Bei unserer Ankunft im Lager wurden wir von meiner Mutter getrennt. Bis zum Ende des Krieges wussten wir nichts über ihr Schicksal. Am nächsten Tag wurde uns allen eine Nummer in den Arm tätowiert. Ein paar Tage später wurden wir von unserem Vater getrennt und in den Kinderblock verlegt. Ich erinnere mich, dass einige Menschen aus Verzweiflung Selbstmord begingen. Jede Nacht hörte ich ihr Schreien, bis sie starben. Damals verlor ich meinen Glauben an Gott.“

Naftali Fürst blieb einige Monate im Kinderblock. Schließlich musste er den Marsch nach Buchenwald antreten. Auf dem Weg nach Buchenwald erreichten sie ein Gehöft, auf dem es ein Lager mit Wohnbaracken gab. Die Bedingungen dort waren fürchterlich: Eiseskälte, offene Baracken, in denen sich die Ratten tummelten, und fürchterliches Essen. Glücklicherweise nahm sich der Leiter des Krankenreviers, ein französischer Arzt, seiner an. „Er sagte mir: ‚Komm und hilf mir auf der Krankenstation. ’Dort betrat ich ein Zimmer in dem es einen Ofen und warmes Wasser gab, so dass ich mich waschen konnte. Das Essen war ebenfalls etwas besser. In diesem Lager waren wir von Mitte Dezember bis zur Räumung des Lagers am 19. Januar.“

Auf bewegende Weise beschreibt Naftali Fürst den qualvollen Todesmarsch durch den Schnee. Von einer Kleinstadt in Polen wurde er ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert:

„Jeder Schritt war eine Qual. Wir waren hungrig, unsere Eltern waren nicht bei uns, es war kalt und regnerisch. Für jeden einzelnen Schritt in dieser Kälte brauchte es den Willen zum Überleben. Um uns herum starben die Menschen wie die Fliegen. Ich erinnere mich, dass ich einen der Deutschen bat, mich am Wagen festhalten zu dürfen, um leichter voranzukommen, aber auch das war nicht erlaubt. Als wir in Buchenwald ankamen, wurde ich in den sogenannten Block 66 geführt. In diesem komplett überfüllten Kinderblock wurden 900 Kinder untergebracht. Hier wäre ich beinahe gestorben. Ich war an einer schweren Lungenentzündung erkrankt und hatte das Bewusstsein verloren. Meinem Bruder wurde deshalb gesagt, er solle mich in den Krankenbau bringen. Das lehnte er ab, denn wir wussten, dass von dort keiner lebend zurückkam. Die Kranken wurden von den Deutschen abgeholt und ermordet. Zum Schluss blieb ihm nichts anderes übrig, als mich auf die Krankenstation zu bringen, wo ich mich etwas erholte. Aus mir unbekannten Gründen wurde ein Teil der Kranken in das Lagerbordell von Buchenwald gebracht. Ich wusste nicht, was das zu bedeuten hatte und fürchtete, man würde uns von dort aus in den Tod schicken. Weil ich ein netter Junge war, verwöhnten mich die Frauen und gaben mir Brot und Schokolade. Dort gab es auch einen gewöhnlichen Arzt und ich konnte Essen für meinen Bruder aufsparen. Am 11. April 1944 wurden wir befreit. Jedes Mal, wenn ich daran denke, muss ich ein wenig lächeln, denn nicht jeder kann von sich behaupten, dass er in einem Bordell befreit wurde. Ich sage immer, dass man viel Glück haben muss, um die Dinge die ich durchgemacht habe, zu überleben. Ich hatte immer wieder Glück, habe viele Wunder erfahren und mein Überlebenswillen war sehr ausgeprägt. Mit meinem Bruder zusammen zu sein, gab mir die meiste Kraft um zu überleben. Außerdem entwickelten sich die Dinge ganz allmählich und so hatten wir Zeit, uns an die Situation zu gewöhnen. Zuerst wurden wir aus unserem Zuhause vertrieben, dann wurde unser gesamtes Eigentum geraubt. Später mussten wir uns verstecken und kamen dann in ein Lager in der Slowakei. Erst zwei Jahre später erreichten wir die eigentliche Hölle. Zu diesem Zeitpunkt konnte uns nichts mehr überraschen. Durch die vorangegangenen Jahre hatten wir uns daran gewöhnt, mit ganz wenig auszukommen. Unsere Eltern hatten uns außerdem eingeschärft, die Hoffnung nicht aufzugeben und daran zu glauben, dass wir überleben würden. Etwas anderes war für sie undenkbar. Als wir dann in der Hölle angekommen waren, hat uns das sehr geholfen.“

Nach Kriegsende kehrte Naftali nach Hause zurück und stellte fest, dass seine Familie die Einzige aus Bratislava war, in der Eltern und Kinder überlebt hatten. Nach dem Gymnasium schloss er sich der Jugendbewegung „Hashomer Hatzair“ an und wanderte nach Israel aus. Von dort wurde er in den Kibbuz Maanit geschickt. Seine Eltern und sein Bruder kamen einige Monate später nach.

Naftali Fürst erinnert sich an die Ankunft im Kibbuz: „Als wir im Kibbuz ankamen, interessierte sich niemand dafür, was wir durchgemacht hatten. Die Mitglieder des Kibbuz sprachen immer nur über ihre wirtschaftlichen Probleme. Einmal erzählte die Erzieherin, dass sie in ihrer Jugend so arm gewesen seien, dass sich zwei Leute ein Ei teilen mussten. Als ich das hörte, dachte ich nur, dass ein halbes Ei die Welt für uns gewesen wäre.“

Verbindliches Thema im österreichischen Lehrplan

Naftali Fürst ist einer von Wenigen, die das Lager Buchenwald überlebt haben. Ein Foto, das ihn in einem der Blöcke des Lagers, zusammen mit anderen jungen Männern zeigt, wurde in den 60er Jahren in der Tageszeitung „Maariv“ veröffentlicht. Er erkannte sich selbst auf dem Bild wieder und erinnerte sich an den Tag, an dem es aufgenommen wurde. Es war der 16. April 1944: „Das Foto wurde vier Tage nach der Befreiung von einem amerikanischen Soldaten aufgenommen und war eines der ersten Bilder, die in den westlichen Medien veröffentlicht wurden.“ (...)

Vierzig Jahre nach der erstmaligen Veröffentlichung des Fotos, wandte sich die deutsche Journalistin Ursula Jung an Naftali Fürst. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, dem Schicksal der auf dem Foto abgebildeten fünfundzwanzig Männer nachzugehen und bat ihn, sie auf ihrer Fahrt zum 60. Jahrestag der Befreiung des Lagers Buchenwald zu begleiten. Sie teilte Naftali außerdem mit, dass er dort Überlebende des Lagers treffen würde. Im April 2005 fuhr Naftali Fürst nach Buchenwald. Zu diesem Zeitpunkt war ihm noch nicht bewusst, wie sich die Dinge weiterentwickeln würden: „Ich folgte dieser Einladung, obwohl ich mir geschworen hatte, nie wieder einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen und nie mehr Deutsch zu sprechen. Der Aufenthalt in Deutschland war sehr schwer für mich. Ich erinnerte mich, dass das Lager auf einem steilen Berg gelegen war und dass dort immer ein starker Wind wehte, im Winter und im Sommer. Als ich dort war, spürte ich den gleichen Wind wie einst. Bei meinem Besuch traf ich nur wenige der Überlebenden. Es war für mich sehr schmerzhaft, dass ich nicht gemeinsam mit meinem Bruder nach Buchenwald zurückkommen konnte. Er war bereits 2003 verstorben. Von diesem Moment an beschloss ich, meine Erfahrungen dem Projekt des Gedenkens an die Shoah zur Verfügung zu stellen. Ich wandte mich an Yad Vashem und schloss mich der Gruppe von Überlebenden an, die ihre Geschichte erzählen. Von da an wurde ich von Yad Vashem eingeladen, um mit Lehrern und Erziehern sowie mit Richtern und Theologen aus Österreich, Deutschland und der Slowakei zu sprechen. Ich habe außerdem Einladungen zu verschiedenen Lehrerfortbildungsseminaren in diesen Ländern erhalten und angenommen. Damit habe ich mein Versprechen gebrochen, nie mehr nach Deutschland zurückzukehren.“

Aber das war nur ein Teil dessen, was ihn noch erwartete. Bei einem der Seminare in Yad Vashem traf Naftali Fürst auf Joachim Wiesner, einem Geschichtslehrer aus Österreich. Joachim Wiesner verstand, dass die Shoah nicht durch die Geschichte von Millionen Ermordeter vermittelt werden kann, sondern nur durch die Veranschaulichung von Einzelschicksalen. Joachim Wiesner veröffentlichte Unterrichtsmaterial, das die Lebensgeschichte von Naftali Fürst zum Gegenstand hat. (...)

Im Januar 2013 nahm Naftali Fürst mit seiner Tochter und seiner Lebenspartnerin Tova an einem Interview mit dem deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck im Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin teil. Kürzlich wurde Fürst auch als persönlicher Gast des Bundespräsidenten zu einem israelisch-deutschen Jugendkonzert eingeladen. „Ich sah ihn an der Seite des Bundespräsidenten sitzen und musste immerzu an den kleinen Jungen im Konzentrationslager denken, der er einst gewesen war“, sagt seine Tochter Ronit. „Dabei dachte ich, dass mein Vater vielleicht Hoffnung in sich getragen hätte, wenn er damals schon gewusst hätte, dass er eines Tages nach Deutschland kommen und Gast des Bundespräsidenten sein würde. Aber er hatte keine Hoffnung und ich frage mich immer, wie er die Kraft zum Überleben dennoch aufbringen konnte."

Man darf nicht vergeben

Sie begleiten Ihren Vater häufig auf seinen Vortragsreisen. Welcher Aspekt seiner Lebensgeschichte bewegt Sie immer wieder?

Uns beiden kommen immer die Tränen, wenn mein Vater von dem Moment erzählt, in dem mein Großvater erfährt, dass seine Frau und sein ältester Sohn Shmuel gefasst wurden. Mein Großvater war kein religiöser Mensch, aber als er davon erfuhr, rannte er auf eine Brücke und rief: „Shma Israel!“ Jedes Mal, wenn mein Vater diese Geschichte erzählt, kommen uns die Tränen, obwohl mein Vater, ebenso wie mein Großvater, überzeugter Atheist ist.

Viele Jahre hat Ihr Vater geschwiegen. Was haben Sie später alles erfahren?

Als mein Vater und sein Bruder ihre Kurzbiografie schrieben, erfuhr ich, dass mein Onkel Shmuel, als er 12 oder 13 Jahre alt war, irgendwann aus dem Konzentrationslager entlassen wurde, weil man glaubte, er und mein Vater seien „Mischlinge“, d.h. Kinder, die einer jüdisch-deutschen Mischehe entstammen. Shmuel erhielt die Erlaubnis das Lager zu verlassen, um die entsprechenden Dokumente als Beweis zu erbringen. Selbstverständlich waren sie keine „Mischlinge“, aber er nutzte die Gelegenheit, um einen Verwandten in einer nahegelegenen Stadt aufzusuchen, der ihm gefälschte Papiere beschaffen sollte. Mein Onkel hätte diese Situation nutzen können, um sich selbst zu retten. Jeder in der Familie hätte dafür Verständnis gehabt. Er kehrte mit den gefälschten Dokumenten ins Lager zurück, um seinen Vater und Bruder zu retten und dachte nicht daran, nur sich selbst in Sicherheit zu bringen. Offensichtlich war der Zusammenhalt innerhalb der Familie sehr groß, und der Respekt vor dem Vater immens, sodass ihm nicht einmal der Einfall gekommen wäre, die Situation zur eigenen Flucht zu nutzen. Am Ende wurde er allerdings denunziert. Der Deutsche, der Shmuel die Erlaubnis zum Verlassen des Lagers gegeben hatte, schwieg über diesen Vorfall, vermutlich, um seine Stellung nicht zu gefährden.

Ihre Eltern waren Shoah-Überlebende. Inwieweit hat das Ihre Persönlichkeit geprägt?

Meine Eltern machten die Shoah nicht zum Mittelpunkt ihres Lebens. Sie waren junge Eltern, jünger als die Eltern der meisten meiner Klassenkameraden. Ich wuchs unbeschwert auf. Man schrieb mir nicht vor, wann ich nach Hause zu kommen hatte; die Eltern verließen sich in allen Belangen auf mich und bestanden darauf, dass ich an allen Klassenfahrten teilnahm. Ich sollte zu einem selbstständigen Menschen heranwachsen. Wichtig finde ich auch, dass es bei uns keine Form von Selbstmitleid gab. Jeder nahm sein Leben selbst in die Hand. Auch heute noch erfüllt mein Vater eine wichtige Aufgabe. Die Tatsache, dass Menschen in Deutschland, einem eindrucksvollen und positiven Menschen begegnen, der sich nicht selbst bemitleidet, ist auch für eine würdevolle Wahrnehmung Israels wichtig.

Naftali, verspüren Sie Deutschen gegenüber keine Wut?

Als das Wiedergutmachungsabkommen zwischen Deutschland und Israel unterschrieben wurde, waren meine Frau und ich gerade dabei den Kibbuz zu verlassen und brauchten daher dringend Geld. Ich aber wollte kein Geld von Deutschland annehmen. Was ich im Leben durchgemacht habe, lässt sich mit Geld nicht wieder gut machen. Bis heute bin ich froh darüber, das Geld abgelehnt zu haben. Daher erlaube ich mir aber auch, heute den Menschen in Deutschland Dinge zu sagen, die sie nicht gerne hören.

Was zum Beispiel?

Wenn ich gefragt werde, ob ich vergeben könne, antworte ich, dass Vergebung nicht möglich ist und dass mir niemand von den Opfern das Recht verliehen hat, zu vergeben. Ich kann deshalb nicht vergeben, aber ich versuche das zu erklären und bemühe mich neue Verbindungen zwischen uns zu knüpfen. Bei meinen Vorträgen unterstreiche ich immer wieder, dass nun eine neue Generation herangewachsen ist und ich das Interesse der Menschen an der Shoah sehr schätze.

 

Mit freundlicher Genehmigung von La Isha, September 2013.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Rachel Gellert
2008 hat Naftali Fürst die Lebensgeschichte seiner Familie unter folgendem Titel in deutscher Sprache veröffentlicht: „Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens. Eine Familie überlebt den Holocaust“.
Übersetzung aus dem Hebräischen: Rachel Gellert