„Jeden Tag sahen wir dasselbe: Tote, Mord und Prügel."
Tema Weinstock
Am 20. Januar 1945 wurden etwa 1000 weibliche Häftlinge aus dem Lager Schlesiersee (heute Sława) in Oberschlesien im Westen Polens evakuiert, einer Region, die an Deutschland annektiert worden war. Die Frauen wurden auf einen Todesmarsch in Richtung Südwesten gezwungen. Unterwegs kamen die Gefangenen durch andere Lager, wo sich weitere Frauen dem Marsch anschließen mussten.
Am 5. Mai 1945, nachdem eine Entfernung von über 800 Kilometern zurückgelegt worden war, endete der Marsch in der Stadt Wallern (Volary) in der Tschechoslowakei, unweit der Grenze zu Deutschland und Österreich.
106 Tage harten Marschierens durch den Schnee. 106 Tage nagenden Hungers, der Krankheit, der Demütigung und des Mordens.
Von den ungefähr 1300 Frauen, die nach Volary marschierten, überlebten etwa 350.
Der Ausstellung liegen die aktuellsten Forschungen über die Todesmärsche, Zeugenaussagen von Überlebenden und Veteranen der US-Armee und Dokumente aus dem Prozess gegen den Kommandanten des Todesmarsches, Alois Dörr, zugrunde.
Die Tage vor dem Todesmarsch
Im Oktober 1944 wurden um die 1000 weibliche Häftlinge des Lagers Auschwitz-Birkenau – junge Frauen, die man überwiegend aus Ungarn und aus dem Ghetto Lodz gebracht hatte – mit der Eisenbahn nach Schlesiersee, einem Außenlager von Groß-Rosen in Niederschlesien (Westpolen) transportiert, einer Region, die von Deutschland annektiert worden war. Sie wurden in zwei benachbarten Bauernhöfen untergebracht, wo sie unter entsetzlich schlechten hygienischen Bedingungen lebten und auf Stroh schliefen, das man auf den Fußboden gestreut hatte. Der Kommandant des Lagers war Karl Herman Jäschke, ein Angehöriger der „Schutzpolizei", vormals Polizist im Breslauer Gefängnis.
Jeden Tag marschierten die Frauen etwa drei Kilometer von den Bauernhöfen zu der Zwangsarbeitsstätte und zurück. Man zwang sie, in der schneebedeckten Erde Panzerabwehrgräben auszuheben, wozu nur Schaufeln und andere handgeführte Arbeitswerkzeuge zur Verfügung standen. Es war bitterkalt, sie waren unzureichend gekleidet und bekamen sehr wenig zu essen. Läuse breiteten sich aus, und viele der Frauen wurden krank. Dutzende starben während der drei Monate der Zwangsarbeit. Die Toten wurden am Zaun, der den Wohnbereich umgab, begraben.
Es war bitterkalt in Schlesiersee, und da wir unzulänglich gekleidet waren, nahmen manche von uns Frauen die eine Decke, die sie besaßen, und trugen sie draußen bei der Arbeit. Drei oder viermal wurde eine Untersuchung bei den Frauen durchgeführt, die von der Arbeit zurückkamen, und diejenigen, die man dabei erwischte, dass sie ihre Decken trugen, bekamen zur Strafe 25 Peitschenhiebe... Die Mädchen wurden ausgepeitscht, bis sie bluteten. Von den hundert Frauen, mit denen ich arbeitete, wurden dreißig irgendwann auf diese Weise bestraft. Wir wurden auch geschlagen, wenn unsere Kleider nass oder schmutzig waren. Es war praktisch unmöglich, dies zu verhindern, da unsere Arbeit darin bestand, im Schnee Panzerabwehrgräben auszuheben.Zeugenaussage von Zisla Heidt, abgegeben am 16. Mai 1945 vor einem Nachrichtenoffizier der US-Armee in Volary
Als die Rote Armee näher rückte, evakuierten die Deutschen die Frauen aus Schlesiersee. Diese Evakuierung wurde zu einem Todesmarsch.
Der sechste Tag des Todesmarsches, 40 km nach Beginn des Marsches
Der Todesmarsch der weiblichen Häftlinge des Lagers Schlesiersee unter dem Kommando des Lagerkommandanten Jäschke begann am 20. Januar 1945. Jäschke hatte den Befehl erhalten, niemanden zurückzulassen. Die Frauen wurden zu einem Fußmarsch von acht Tagen gezwungen: sie legten eine Entfernung von 95 Kilometern in nord-westlicher Richtung zurück, bis sie das Lager Grünberg erreichten. Beim Verlassen Schlesiersees hatte jede Frau einen Laib Brot bekommen. Ob und wann sie weitere Nahrung bekommen würden, wussten sie nicht. Mit dünner Bekleidung und sperrigen Holzpantinen ausgestattet, marschierten sie durch die eisige Kälte. Die Schwächeren wurden von ihren Freundinnen in Schubkarren geschoben. Die Wächter trieben sie an, um sie daran zu hindern, langsamer zu werden. Wer nicht mithalten konnte, wurde erschossen. Es ist nicht klar, wie viele Frauen den Zug überlebten und Grünberg erreichten. Mindestens 150 wurden erschossen oder starben unterwegs an Hunger und Erschöpfung.
Am 25. Januar, nachdem sie mehr als 40 Kilometer weit marschiert waren, wurden etwa 40 Frauen, die schwächeren unter den Gefangenen, in der Nähe des Dorfes Alt-Hauland, heute Stary Jaromierz, ermordet. Später brachte man die Toten in ein Massengrab auf dem Friedhof im benachbarten Kargowa.
Eine Kommission zur Erforschung der Verbrechen an den Polen in Zielona Góra (vormals Grünberg) untersuchte die Ermordung der Frauen im Wald, sammelte Zeugenaussagen unter den Ortsansässigen und fasste in ihrem Bericht von 1967 wie folgt zusammen:
Die Deutschen Wächter nahmen 38 erschöpfte Frauen, die nicht weitermarschieren konnten, beiseite, und von diesem Augenblick an bekamen sie nichts mehr zu essen. Später, etwa um 15:00 Uhr, lud man sie auf drei Wagen… und gemeinsam mit sieben Wächtern, die den Transport in den Wald begleiteten, wurden sie weggebracht. Bei der Ankunft im Wald befahlen die Wächter den Fahrern der Wagen... anzuhalten. Dann begannen sie, die wehrlosen Frauen zu ermorden. Sie wurden kaltblütig ermordet, auf die unmenschlichste Weise, die man sich vorstellen kann.
Einer der Fahrer sagte in seiner Zeugenaussage:
Die Frauen… sahen elend und erschöpft aus… der Dorfbürgermeister behauptete, sie sollten ins Krankenhaus gebracht werden… Als wir den Wald erreichten, befahlen sie [die deutschen Wächter] uns, anzuhalten und begannen, die Frauen zu erschießen. Sie zogen sie an den Haaren und erschossen sie…. Hinterher wurden die Frauen begraben…. diese Wächter waren betrunken, und sie tranken weiter. Auch mir boten sie Alkohol an.
Der neunte Tag des Todesmarsches, 95 km nach Beginn des Marsches
Am 28. Januar 1945 erreichten die Frauen aus Schlesiersee Grünberg. Hanah Kotlicki (geb. Anny Keller), eine Gefangene in Grünberg, erinnert sich an die Ankunft:
Zwei Tage bevor wir Grünberg verließen, kam eine Gruppe von etwa 1000 Frauen bei uns im Lager an… die meisten von ihnen aus Ungarn und Frauen aus Lodz… wir wussten nicht, dass es so etwas gab: Mädchen… ohne Haare, mit hölzernen Schuhen ohne Socken, in Lumpen gehüllt. Jede mit ihrer grauen Decke. Sie kamen von einem unsäglich strapaziösen Marsch. Es war Winter, und sie hatten draußen geschlafen… das erste, was sie taten, war, über unsere Schränke herzufallen und alles zu stehlen, was wir besaßen… sie waren sehr hungrig. Sie hatten tagelang nichts gegessen und getrunken. Wir sahen sie an und konnten es nicht fassen, dass Menschen so aussehen können… wir ahnten nicht, dass uns dasselbe Schicksal bevorstand.
Im Februar 1942 war in Grünberg, nordwestlich von Breslau, ein Zwangsarbeitslager für jüdische Frauen eingerichtet worden. Die Frauen mussten in der lokalen Textilfabrik DWM (Deutsche Wollwaren Manufaktur) arbeiten. Die meisten von ihnen waren jung – zwischen 15 und 30 Jahre alt – und waren aus Oberschlesien in Polen ins Lager gekommen. Sie arbeiteten in Schichten von 12 bis 14 Stunden. Am 1. Juli 1944 wurde aus dem Arbeitslager, das von der Organisation Schmelt (der NS-Dienststelle, die die Werkstätten und Lager organisierte, in denen Juden im östlichen Oberschlesien, in Niederschlesien und im Sudetenland zur Zwangsarbeit herangezogen wurden) eingerichtet worden war, ein Außenlager von Groß-Rosen, und die Bedingungen verschlechterten sich. Ende November 1944 waren in Grünberg 971 weibliche Gefangene inhaftiert.
Ein oder zwei Tage nach der Ankunft der Frauen aus Schlesiersee wurde Grünberg evakuiert. Die Häftlinge aus Grünberg und Schlesiersee wurden in zwei Gruppen unterteilt.
Die erste Gruppe, die aus etwa 700 Frauen bestand, musste in nordwestlicher Richtung bis nach Jüterbog marschieren und wurde dann auf einen Eisenbahnzug verladen. Im Laufe eines Monats legten diese Frauen über 400 km zurück. Viele starben unterwegs oder wurden ermordet. Die genaue Anzahl der Opfer ist unbekannt. Die Überlebenden dieses Marsches erreichten Bergen-Belsen.
Die zweite Gruppe, etwa 1100 Frauen, wurde zu einem Marsch von etwa 480 km in südöstlicher Richtung gezwungen und erreichte fünf Wochen später das Lager Helmbrechts in Bayern.
Der zehnte Tag des Todesmarsches, 120 km nach Beginn des Marsches
Am 29. Januar 1945 brachen die Gefangenen des Lagers Grünberg auf, manche ohne Schuhe, die Füße in Lumpen gewickelt. Ihre Habseligkeiten bestanden aus einer dünnen Decke, einer Blechschüssel und einem Löffel. Jede bekam ein Stück Brot. Der Kommandant des Marsches war der selbe Mann, der die Gefangenen aus Schlesiersee gebracht hatte – Karl Hermann Jäschke.
Am schlechtesten war die Verfassung der Frauen, die aus Schlesiersee gekommen waren. Nach einem Aufenthalt in Grünberg von ein oder zwei Tagen hatten sie sich noch nicht von ihrem vorherigen Marsch erholt. Nach etwa sechs Kilometern brach eine der Frauen, Amalia Klagsbald, zusammen. Ihre Freunde versuchten, ihr zu helfen, aber einer der Wächter schoss sie in den Kopf. Die Leiche wurde zurückgelassen.
Am 31. Januar erreichten sie Christianstadt, ein Arbeitslager für Frauen, das etwa 40km südwestlich von Grünberg lag und eine Munitionsfabrik beherbergte. In Christianstadt entkamen einige Dutzend Frauen aus der Marschkolonne. Einige kehrten nach Grünberg zurück, während andere gefangen und nach Christianstadt zurückgeführt wurden. Cila Federman (geb. Magrkevits) erinnert sich:
Wir erreichten Christianstadt… alle Straßen waren voller Menschen, die vor den Russen geflohen waren. Ich begann, mich unter all die Deutschen zu mischen… plötzlich stieß ich auf meine Freundin Mania… auch sie war entkommen… und Mania war mit einem Mädchen aus Leipzig zusammen, das Deutsch sprach, Hanka (Anny Keller). Hanka meinte, wir sollten sagen, wir seien Flüchtlinge, die ein Nachtlager bräuchten. … Wir gingen in ein Haus, und man gab uns ein Bett… Wir schliefen ein… Mitten in der Nacht klopfte es an der Tür… Polizei! … Sie brachten uns zur Polizeiwache, wo bereits einige kranke Mädchen waren, die sie auf einen Schlitten gesetzt hatten… Wir mussten sie mehrere Kilometer weit ziehen, bis wir das Lager erreichten, wo die Mädchen waren… Wir wurden schrecklich verprügelt… Der Mann, der uns gebracht hatte, forderte die Lagerwache auf, uns bis zum Morgen zu bewachen… dann würde er uns mit eigener Hand erhängen, sagte er… Unsere Freundin Hanka sprach mit der Deutschen und überredete sie, uns aus dem Keller zu lassen, in den man uns eingesperrt hatte.
Der sechzehnte Tag des Todesmarsches, 185 km nach Beginn des Marsches
Am 2. Februar 1945, nach einem Aufenthalt von etwa zwei Tagen im Lager Christianstadt, ging der Marsch der Gefangenen weiter. Es ist anzunehmen, dass einige weibliche Häftlinge aus Christianstadt der Gruppe, die aus Grünberg gekommen war, zugewiesen wurden. Sie setzten den Marsch in südwestlicher Richtung fort. Einige der Frauen, die aus Grünberg gekommen waren, nutzten das Chaos, das bei der Evakuierung des Lagers entstand, und flohen.
Jeder Fluchtversuch, den die Marschbegleiter vereitelten, führte zu brutalen, tödlichen Prügeln oder der Erschießung der Entlaufenen. Im Laufe des Marsches von Christianstadt nach Weißwasser, das um den 7. Februar erreicht wurde, gab es mehrere Fluchtversuche. Einige der Entlaufenen wurden gefasst. Mehrere von ihnen wurden geschlagen und erschossen. Dies war das erste Mal, dass die Gefangenen von Grünberg eine öffentliche Erschießung erlebten, ein Anblick, der eine unheilbare Wunde hinterließ.
Gerda Weissmann Klein, eine Überlebende des Marsches, beschreibt den Wunsch nach Flucht in ihren Erinnerungen, „Nichts als das nackte Leben":
Wir begannen mit dem Gedanken zu spielen, zu fliehen. Einige Mädchen waren im Schutze der Dunkelheit bereits entwischt… „Wir müssen weg", wollte ich flüstern. Stattdessen hörte ich meine Stimme sagen: „Vielleicht heute Nacht".
„Alle zum Appell!", ertönte die Stimme des SS-Offiziers. Dann hörte man Schreie und ängstliches Flehen aus dem Wald. Drei SS-Männer hatten im Wald vierzehn Mädchen gefasst. Nun stellten sie sie vor uns auf. Der Kommandant zog seine Pistole. Die Mädchen schrien. Der Kommandant feuerte immer wieder, und die Mädchen fielen um, eine auf die andere.
Ich schloss die Augen und hielt Ilse fest bei der Hand. Wir marschierten weiter. In diesem Augenblick schwor ich mir, ich würde niemals versuchen zu entkommen, niemals unser Leben selbst in die Hand nehmen, nie von dem Pfad abweichen, der uns in den Tod führte.
Der 23. Tag des Todesmarsches, 240 km nach Beginn des Marsches
Etwa am 10. Februar, ungefähr eine Woche nach der öffentlichen Exekution der Entlaufenen in Weißwasser, machten die Frauen bei Bautzen halt, um dort die Nacht zu verbringen. Am Morgen erhielt jede Frau einen Laib Brot. Während der Verteilung entdeckten die Wächter, dass einige Laibe fehlten. Niemand gestand, das Brot gestohlen zu haben, und die fehlenden Laibe wurden nicht zurückgegeben. Zur Strafe entschloss sich Jäschke, der Marschkommandant, die Reihen auszudünnen. Den Gefangenen wurde befohlen, in Reih und Glied zu stehen, und jede zehnte Gefangene wurde in den Wald gebracht und erschossen. Zwischen fünfzig und sechzig Frauen wurden an diesem Tag erschossen. Etwa acht weitere Frauen wurden ebenfalls in den Wald gebracht, um die Toten zu begraben.
Halina Kleiner war unter jenen, die ausgewählt wurden, die ermordeten Frauen zu begraben. Diese Arbeit brachte jeder der Frauen einen Laib Brot ein:
Wir aßen das Brot…. es war „Blutbrot", aber wir aßen es…. Es gab keine Gefühle, keine Emotionen, außer dem schrecklichen Hunger.
Zwischen dem 13. und dem 15. Februar erreichten die Gefangenen Dresden, das von den Alliierten bombardiert wurde. Das massive Bombardement wirkte auf die Frauen wie ein riesiges Lagerfeuer, als ginge die ganze Welt in Flammen auf. Mary Robinson-Reichman erinnert sich in ihrer Zeugenaussage, dass einige der Gefangenen von den Wächtern gezwungen wurden, eine ganze Nacht auf einer der Brücken zu verbringen, in der Hoffnung, die Brücke würde bombardiert und sie würden sterben. Die Brücke wurde nicht getroffen, und sie überlebten. In den folgenden zwei Wochen marschierten die Frauen weiter.
Am 1. März 1945 erreichten die Frauen das Lager Oelsnitz in Bayern. Dort blieben sie für einen Tag. Dann teilte man sie in zwei Gruppen auf: 179 Gefangene, die von Jäschke für „marschuntauglich" befunden worden waren, schickte er auf Bauernkarren ins Lager Zwodau. Die übrigen Frauen marschierten weiter.
Der 46. Tag des Todesmarsches, 570 km nach Beginn des Marsches
Am 6. März 1945 erreichten 621 Gefangene das Lager Helmbrechts. Jäschke und seine Männer lieferten sie dem Kommandanten von Helmbrechts, SS-Unterscharführer Alois Dörr, und dessen Stab aus. Bei ihrer Ankunft nahm man ihnen aus Angst vor der Ausbreitung von Krankheiten die Kleider zur Desinfektion weg. Man zwang sie, stundenlang unbekleidet zu stehen, bis ihnen ihre feuchten Kleider zurückgegeben wurden.
Helmbrechts war ein Konzentrationslager für Frauen in Bayern, etwa 16 km südwestlich der Stadt Hof. Das Lager wurde im Sommer 1944 eingerichtet und beherbergte etwa 600 nicht-jüdische Zwangsarbeiterinnen, überwiegend Slawinnen (aus Polen, Russland und dem Baltikum), einige Französinnen und 25 Deutsche. Sie arbeiteten in der Munitionsfabrik in der Stadt Helmbrechts.
Der Aufenthalt im Lager wird von den Überlebenden als „Hölle auf Erden" beschrieben – er war der schwerste Teil des Todesmarsches. Sie wurden in zwei neuen Baracken untergebracht, ohne Heizung und selbst minimale sanitäre Versorgung. Eine Baracke war für die Kranken bestimmt, und einige Dutzend Frauen wurden dort auf hölzernen Pritschen untergebracht. In der zweiten Baracke war der kalte Fußboden mit einer dünnen Schicht Stroh bedeckt. Nachts wurden die Barackentüren verriegelt, und die Gefangenen durften nicht hinaus. Die Baracke verfügte über zwei Eimer zum Verrichten der Notdurft, die für die Hunderte von Gefangenen, von denen viele an der Ruhr litten, vollkommen unzureichend waren. Am morgen wurden sie ausgepeitscht, weil die Baracke schmutzig war.
Die Gefangenen bekamen in Helmbrechts keine medizinische Versorgung, und da sie nicht arbeiteten, fielen ihre Essensrationen besonders mager aus. Eine der Strafen, die man in Helmbrechts gegen die Gefangenen verhängte, war, sie stundenlang unter dem Dach der Baracke stehen zu lassen, während ihnen langsam Wasser auf den Kopf tröpfelte. Frania Reifer (Frances Henenberg), eine junge Jüdin aus Wadowice in Polen wurde auf diese Weise dafür bestraft, dass sie „geschmuggelte" Fotos ihrer ermordeten Familie besaß. Man zwang sie, einen ganzen Tag lang barfuß in der Eiseskälte zu stehen.
44 jüdische Gefangene starben in Helmbrechts. Diese Frauen wurden später in einem Massengrab auf dem jüdischen Friedhof der Stadt Hof begraben.
Als die Westfront näherrückte, wurde das Lager evakuiert. Am Nachmittag des 13. April verließen 577 jüdische und etwa 590 nicht-jüdische Gefangene, darunter die 25 deutschen Frauen, gemeinsam das Lager Helmbrechts. Bevor sie aufbrachen, befahl Dörr, überschüssige Kleidung zu verteilen – jedoch nur an die nicht-jüdischen Gefangenen. Die Gefangenen wurden vom Lagerpersonal eskortiert: dieses bestand aus 25 Frauen und 22 Männern, darunter Lagerkommandant Dörr, der für den Marsch verantwortlich war.
Die Frauen marschierten in Richtung Südosten. 60 kranke jüdische Gefangene wurden in Lastwagen nach Schwarzenbach an der Saale gebracht. Viele der anderen wurden sehr schwach und mussten von ihren Mitmarschierenden gestützt warden.
Der 84. Tag des Todesmarsches, 587 km nach Beginn des Marsches
Jeden Tag gab es solche, die nicht aufwachten. Es gab Tote. Anfangs töteten die Deutschen viele. Später gewöhnten wir uns daran. Wir sahen jeden Tag dasselbe. Tote, Mord und Prügel.Tema Weinstock (geb. Pinczewska)
Am 13. April marschierten die Frauen 17 Kilometer von Helmbrechts nach Schwarzenbach. Nach etwa fünf Kilometern erschoss einer der Wächter eine Gefangene, die nicht weitermarschieren konnte, und ließ die Tote einfach liegen. Am 16. April fand ein Bauer die Leiche, deren Gesicht durch die Kugel entstellt war. Sie wurde im Friedhof von Ahornberg begraben, einem Dorf, das die Amerikaner am Vortag besetzt hatten. Als der Marsch durch Ahornberg ging, flehten die halbverhungerten Gefangenen um Nahrung und Wasser, doch die meisten Wächter hielten die Dorfbewohner davon ab, ihnen zu helfen.
Etwa zwei Kilometer östlich von Ahornberg, kurz vor dem Dorf Modlitz, führte einer der Wächter zwei erschöpfte Frauen in den Wald und tötete sie durch Kopfschüsse. Die Amerikaner, die am 15. April in Modlitz einmarschierten, fanden die Leichen und begruben sie, wo man sie gefunden hatte.
Hinter Modlitz erschoss einer der Wächter zwei weitere Frauen, die nicht weitergehen konnten. Eine von ihnen starb nicht sofort. Menschen aus dem Ort hörten ihre Schreie und ihr Stöhnen, doch niemand wagte, zu ihr zu gehen, und sie starb in der Nacht. Am 14. April begruben Einwohner von Modlitz sie an der Stelle, wo man sie gefunden hatte.
Auf dem Weg von Modlitz nach Wölbersbach schoss einer der Wächter einer zwanzigjährigen Gefangenen in den Kopf, da sie in ihrem geschwächten Zustand hinter den Marschierenden zurückgeblieben war. Am 14. April fanden Einwohner von Wölbersbach ihre Leiche und begruben sie an Ort und Stelle. Nachdem die Marschkolonne den Ort Seulbitz durchquert hatte und zu einer Steigung gelangt war, wurden vier Frauen, die zu schwach waren, weiterzugehen, von Wächtern durch Kopfschüsse getötet. Am darauffolgenden Tag wurden die Leichen von Einwohnern von Seulbitz gefunden und dort begraben.
Am Abend erreichten die Frauen Schwarzenbach an der Saale. Die Gefangenen, die zu Fuß angekommen waren, verbrachten die Nacht unter freiem Himmel, auf einem eingezäunten Hof am Stadtrand. Weder am Abend noch am Morgen gab man ihnen Nahrung oder etwas Warmes zu trinken. Die kranken Gefangenen, die im Lastwagen angekommen waren, brachte man dank der Intervention des Bürgermeisters von Schwarzenbach in ein Gebäude. Eine der für den Lastwagen zuständigen Aufseherinnen schubste und schleifte sie, manche krochen, von Schwäche und Erschöpfung überwältigt. Auch die kranken Frauen bekamen nichts zu essen.
In der Nacht starben fünf der kranken Frauen in dem Gebäude. Eine weitere todkranke Gefangene wurde mit den fünf Toten zum Friedhof in Schwarzenbach gebracht und starb unterwegs. Die sechs Frauen wurden dort begraben.
Der 85. Tag des Todesmarsches, 604 km nach Beginn des Marsches
Am Morgen des 14. April mussten die kranken Frauen auf einen Karren klettern, der an einen Traktor gekuppelt war. Ihr Zustand hatte sich drastisch verschlechtert, und eine der Aufseherinnen schlug sie mit einem Knüppel, weil sie nicht schnell genug einstiegen. Manche krochen auf allen Vieren. Als alle auf dem Karren waren, fuhr der Traktor zu dem Hof, wo die Marschteilnehmerinnen geschlafen hatten, und holte weitere fünfzehn Frauen ab, die nicht weitergehen konnten. Sie wurden nach Rehau gebracht und dort zurückgelassen.
Am selben Tag marschierten die verbliebenen Frauen 17 Kilometer von Schwarzenbach an der Saale durch Quellenreuth und Rehau nach Neuhausen. Nach etwa 4 Kilometern konnte eine der Gefangenen nicht mehr Schritt halten, und Kowaliv, ein Wächter, erschoss sie in der Nähe von Quellenreuth. Die Leiche wurde später gefunden und an Ort und Stelle begraben. Das zweite Opfer des Tages war eine Gefangene, die man in den Wald links der Straße zwischen Rehau und Asch führte, etwa 5 Kilometer, nachdem der Marsch Rehau passiert hatte. Dort wurde sie erschossen. Ganz in der Nähe erschoss man eine weitere Gefangene. Später wurden zwei weitere Häftlinge – die Ungarinnen Aranka Brody (29) und Elsa Habermann (17) – im Abstand von 50-60 Metern, erschossen. Die Leichen der vier Frauen wurden von den Amerikanern entdeckt, die die Gegend am 9. Mai erreichten. Man begrub sie in einem Gemeinschaftsgrab in Rehau.
Am selben oder am darauffolgenden Tag, wurde die 24jährige Basha Wechsler aus Dąbrowa Górnica in Polen erschossen. Basha wurde von ihrer Freundin Anny Keller (Hanah Kotlicki) gestützt. Inge Schimming, eine Aufseherin, zog Basha von ihrer Freundin fort und schleppte sie in den Wald. Schimming kehrte allein zurück.
Die Marschierenden erreichten Neuhausen, das an der bergigen Grenze zwischen Deutschland und der Tschechoslowakei (dem Sudetenland) lag. An diesem Tag bekamen die Gefangenen nichts zu essen und mussten unter freiem Himmel schlafen.
Ein Bote der SS kam nach Neuhausen und setzte Alois Dörr davon in Kenntnis, dass er den Befehl habe, mit dem Erschießen der Gefangenen aufzuhören und sie freizulassen, da die Amerikaner näherrückten. Auch den Wächtern befahl man, das Töten und Foltern der Gefangenen einzustellen. Dörr ignorierte den Befehl.
An diesem Abend wurde Dörr unterrichtet, dass die Amerikaner 15 km vor Neuhausen stünden. Man teilte ihm mit, es würden Verhandlungen mit den Alliierten geführt, und befahl ihm, sämtliche Dokumente zu vernichten. Er gab den Befehl, alles Beweismaterial zu verbrennen und entschloss sich, den Marsch unverzüglich fortzusetzen. In dem anschließenden Chaos, das durch den nächtlichen Aufbruch verursacht wurde, entkamen 50 Gefangene aus der Gruppe der nicht-jüdischen Frauen aus dem Lager Helmbrechts. Auch einige der Aufseherinnen ergriffen die Gelegenheit, im Schutz der Dunkelheit zu entfliehen.
Tage 86-95 des Todesmarsches, 730 km nach Beginn des Marsches
Am 17. April erreichten die Marschierenden das Lager Zwodau, wo sie die kranken Gefangenen antrafen, die von Karl Hermann Jäschke, dem Kommandanten des ersten Marschabschnitts, aus Oelsnitz geschickt worden waren. Von den 160 kranken Frauen, die in Zwodau angekommen waren, starben 37 noch vor der Befreiung des Lagers. Auch jene kranken Frauen fanden die Marschierenden vor, die mit dem LKW von Schwarzenbach nach Rehau und von dort nach Zwodau geschickt worden waren. Etwa 150 weibliche jüdische Gefangene, die schon vor Ankunft der Gruppe aus Helmbrechts aus anderen Lagern gebracht worden waren, waren ebenfalls im Lager inhaftiert. In Zwodau erhielt Dörr Befehl, alle nicht-jüdischen Gefangenen, die er aus Helmbrechts gebracht hatte, zurückzulassen und nur die deutschen Frauen und die jüdischen Gefangenen, etwa 800 an der Zahl, mitzunehmen. Die jüdischen Frauen waren krank, abgemagert und extrem geschwächt. Nach einem Tag Rast in Zwodau verließen die Frauen das Lager. Nach einer Woche, in der sie über 70 km zurückgelegt hatten, erreichten sie am Nachmittag des 23. April bei strömendem Regen Neustadt.
Am nächsten Tag, am Morgen des 24. April, brachen die Frauen aus Neustadt auf. Nachmittags, nachdem sie 22 Kilometer zurückgelegt hatten, erreichten sie das Dorf Wilkenau. Diejenigen, die zu schwach und krank waren, um zu laufen, wurden auf Pferdewagen transportiert, begleitet von Wächtern und Wehrmachtssoldaten auf dem Rückzug. Bei Ronsperg wurde die Kolonne von amerikanischen Tieffliegern bombardiert. Mehrere Gefangene wurden verwundet und getötet. Deutsche Soldaten brachten die verwundete Netka Demska in das örtliche Militärlazarett. Später holte einer der Wächter sie zurück zur Marschkolonne. Netka überlebte. Eine andere junge Frau, Sonia Federman, wurde bei dem Bombardement ebenfalls verwundet. Einer der Wächter ließ es nicht zu, dass ihre Wunden behandelt würden: „Für Juden gibt es keine Krankenhäuser. Juden verdienen keine Hilfe." Mehrere Pferde fielen ebenfalls dem Bombardement zum Opfer. Die ausgehungerten Gefangenen stürzten sich auf die toten Pferde, rissen mit bloßen Händen rohes Fleisch und Fett ab und verschlangen es. Während des Tieffliegerangriffs fiel Mary Reichmann (Robinson), die in äußerst geschwächtem Zustand war, aus dem Wagen, auf dem sie transportiert wurde. Ihre Freundin Lola Lehrer brachte ihr Pferdeleber zu essen. Mary ist sich sicher, dass ihr dies das Leben rettete. Einige der Gefangenen nutzten das durch den Tieffliegerangriff ausgelöste Chaos aus, um zu entkommen.
In Wilkenau wurden die Marschteilnehmer in Kornspeichern auf Bauernhöfen untergebracht. Auf einem der Höfe fanden Gefangene einen Haufen verfaulten Futters, das an Tiere nicht mehr verfütterbar war. Einige der halbverhungerten Frauen rannten zu dem Futterhaufen und begannen zu essen. Einer der Wächter schoss auf eine Gefangene und verwundete sie am Bein. Dann kam er näher und tötete sie durch einen Kopfschuss.
An diesem Tag bekamen die Gefangenen Suppe, die auf Befehl der Wächter von Einwohnern des Dorfes Wilkenau für sie zubereitet worden war.
In der darauffolgenden Nacht starben mindestens neun Frauen. Sie wurden gemeinsam mit der erschossenen Gefangenen begraben.
Der 96. TAG des Todesmarsches, 750 km nach Beginn des Marsches
Viele Tage lang bekamen die Marschierenden nichts zu essen und zu trinken. An „guten" Tagen schliefen sie in Scheunen am Weg, doch oft mussten sie im Schnee, auf offenem Feld, übernachten. Jeden Tag wurden sie weniger. Morgen für Morgen fanden die Frauen die Leichen derer, die in der Nacht gestorben waren, besiegt durch Erschöpfung, Hunger und Kälte.
Am 25. April verließen die Gefangenen Wilkenau. Nachdem sie etwa 1,5 Kilometer zurückgelegt hatten, erschoss ein Wächter eine der Frauen und ließ sie am Ort zurück.
Am selben Tag überquerten die Frauen die Grenze zwischen dem Sudetenland und dem Reichsprotektorat Böhmen und Mähren (heute Teil der Tschechischen Republik) und erreichten die Stadt Taus (heute die tschechische Stadt Domažlice). Die Anwohner des Ortes versuchten, den Gefangenen Essen und Trinken zu geben und waren den deutschen Wächtern gegenüber, die sie durch Schüsse in die Luft zu vertreiben versuchten, unverhohlen feindselig. Einige Frauen nutzten die Situation aus und entkamen.
Später versuchten die tschechischen Einwohner des Dorfes Mrdaken, den marschierenden Gefangenen Essen zu geben. Dörr begann, die Hauptstraßen zu meiden und den Marsch in Richtung der Siedlungen im Sudetenland zu lenken, deren tschechische Bewohner evakuiert worden waren, so dass nur Deutsche verblieben waren.
Am Ende des Tages, nach einem Marsch von etwa 20 Kilometern, erreichten sie Maxberg. Dörr forderte den Bürgermeister auf, für alle Gefangenen Unterkünfte zu finden. Der Bürgermeister erklärte, es gäbe keine Scheune, die groß genug sei, und schlug vor, sie an mehreren verschiedenen Orten unterzubringen. Dörr entschied, die Frauen sollten die Nacht im Freien verbringen. Die Ortsbewohner bereiteten ihnen Suppe. Während der Austeilung der Suppe kam es unter den ausgehungerten Frauen zu Drängeleien, was zur Einstellung der Essensvergabe führte. An diesem Abend und am darauffolgenden Morgen bekamen die Gefangenen nichts zu essen. Mindestens drei Frauen starben in der Nacht.
Der 104. Tag des Todesmarsches, 875 km nach Beginn des Marsches
Am 3. Mai 1945 erreichten 325 jüdische und 25 deutsche Gefangene Volary. Die Gruppe, die zu Fuß marschiert war, kam am Abend an, die kranken Frauen auf den Wagen später in der Nacht. Die Einwohner Volarys versuchten, den Frauen zu essen zu geben, doch die Wächter hinderten sie daran. Eine der Aufseherinnen schlug die Gefangenen, die ihre Hände nach Essbarem ausstreckten.
Dörr hatte schließlich begriffen, dass der Krieg verloren war, und entschloss sich, die verbliebenen Gefangenen freizulassen. Er hatte vor, sie in das benachbarte Prachatice, einem Grenzort zwischen dem Protektorat und Deutschland, zu bringen, und sie dort freizulassen. Am Mittag des 4. Mai wurden die jüdischen Frauen durch Dörr einer Selektion unterworfen. 150 jüdische Frauen und die 25 Deutschen setzten den Marsch zu Fuß fort. Die übrigen 175 wurden als marschuntauglich eingestuft. 35 von ihnen wurden auf ein Fahrzeug verladen, das von Dörr gesteuert wurde, gemeinsam mit einigen der Wächter. Geplant war, weitere Fahrzeuge aufzutreiben, um den Rest der Frauen nach Prachatice zu bringen.
5-6 Kilometer nordöstlich von Volary geriet das Fahrzeug unter Beschuss durch einen amerikanischen Tiefflieger, doch die Gefangenen blieben unverletzt. Eine der Aufseherinnen, die schwangere Ruth Schultz, wurde auf der Stelle getötet, zwei weitere wurden verwundet. Einige der Gefangenen machten sich die Situation zunutze, um zu entkommen, aber die meisten Frauen in dem Fahrzeug waren zu schwach dazu, und die Wächter sperrten sie in eine Scheune in dem Ort Bierbruck.
Unweit der Scheune fassten die Wächter zwölf Frauen aus der Gruppe, die zu Fuß gegangen war, stellten sie an einer Wand auf und erschossen sie. Ihre Leichen ließ man zurück. Die Wächter waren darauf aus, den Tod von Ruth Schultz und die Verletzungen der anderen Wächter zu rächen. Sie waren wütend, dass die jüdischen Frauen unverletzt geblieben waren. Anscheinend war einer der Wächter der Freund von Ruth Schultz und der Vater ihres ungeborenen Kindes.
Die Gruppe der Marschierenden setzte ihren Weg über Pfefferschlag nach Prachatice fort. Kurz vor Prachatice tötete einer der Wächter eine Frau durch einen Schuss in den Kopf. Ihre Leiche wurde nach der Ankunft der Amerikaner gefunden und auf dem Friedhof von Prachatice begraben.
Die marschierenden Frauen erreichten Prachatice in der Nacht. Die Verantwortung für sie wurde der Heimwehr übertragen. Die 25 deutschen Gefangenen wurden freigelassen.
Im Schuppen einer Möbelfabrik in Volary lagen 140 Frauen im Sterben. Die zwei Wächter, denen man die Verantwortung für sie übertragen hatte, warteten vergeblich auf die Rückkehr der Fahrzeuge aus Prachatice, die sie und die Gefangenen abholen sollten. In dieser Nacht machten sie sich davon.
Der 106. Tag des Todesmarsches, 890 km nach Beginn des Marsches
Am Morgen des 5. Mai ließen drei Wächter 22 der 23 Frauen aus der Scheune in Bierbruck, wo sie eingesperrt gewesen waren, heraus. Etwa eine halbe Stunde lang trieben die Wächter sie den Berg hinauf und in einen angrenzenden Wald. Wer zurückblieb, wurde erschossen, die Leichen im Wald zurückgelassen. Schließlich ließen die Wächter die letzten drei Frauen, die noch am Leben waren, frei. Alle drei – Anny Fogel, Luba Federman (Dzilovski) und Jadzia Goldblum – überlebten. Lola Lehrer hatte sich in der Scheune in Bierbruck versteckt. Sie wurde später von der Hofbesitzerin entdeckt, die sich ihrer annahm.
Einigen der Frauen, die nach Prachatice weitermarschiert waren, gelang die Flucht. Die restlichen wurden durch Alois Dörr der lokalen Heimwehr übergeben, die sie auf eine Anhöhe im Wald brachte. Die Frauen fürchteten, man werde sie hinrichten, doch ihre Wächter, überwiegend ältere Männer, befahlen ihnen, sich in einer Lichtung hinzusetzen. In der Nacht verließen sie sie. Erst am nächsten Morgen, Sonntag, dem 6. Mai 1945, wurde den Frauen klar, dass sie unbewacht waren. Sie stiegen in östlicher Richtung den Berg hinunter, der aufgehenden Sonne entgegen – in Richtung der Russen. Die meisten von ihnen erreichten Husinec, ein tschechisches Dorf im Protektorat. Sie kamen an, als die Dorfleute in der Kirche waren. Der Inhaber einer Apotheke am Ort, Vaclaw Plachta, sah eine der Frauen und machte die Kirchgänger auf sie aufmerksam. Man brachte sie in das Wirtshaus des Ortes. Der einzige Arzt des Dorfes, Dr. František Krejsa, kümmerte sich um sie. Auf seine Anweisung hin brachten die Dorfleute ihnen weiche Nahrung. Der Arzt telefonierte mit dem Bürgermeister der Nachbarstadt Vodňany und bat ihn um Hilfe. Die Frauen wurden in der Ortsschule von Vodňany untergebracht, die in ein improvisiertes Krankenhaus umgewandelt wurde. 12 Frauen, die an Typhus litten, wurden ins Krankenhaus des nahegelegenen Volyně gebracht, wo zwei von ihnen – Masia Heide und Liwia Zaks – starben.
Unterdessen begannen die Einwohner von Volary, allen voran Oskar Knöbl, die kranken Frauen, die man in dem Fabrikschuppen zurückgelassen hatte, medizinisch zu versorgen.
„Nach meinen Kenntnissen der Weltgeschichte hat die Welt nie zuvor solche massenhafte Bestialität und Brutalität gesehen, wie sie sich in der Behandlung dieser Frauen zeigte."
Major Henry N. Hooper, Volary, 8. Mai 1945
Am 6. Mai 1945 marschierte das 2. Regiment der 5. Infanteriedivision der US-Armee in Volary ein. Nachdem die Einwohner berichtet hatten, eine Gruppe junger, kranker jüdischer Frauen befinde sich im Schuppen der Möbelfabrik, wurden einige Männer dorthin beordert. Zwanzig Frauen waren bereits vor Ankunft der Amerikaner gerstorben, zwei weitere am Tag ihrer Ankunft. 118 Frauen befanden sich in dem Fabrikschuppen, die meisten von ihnen in schrecklicher Verfassung. Gerda Weissman-Klein beschreibt den Tag des Einmarsches der Amerikaner in Volary in ihren Erinnerungen „Nichts als das nackte Leben":
Liesel lag auf dem verschmutzten Fußboden. Sie wusste, dass wir frei waren, aber es schien ihre Stimmung nicht zu heben. „Wo ist Suse?", fragte ich sie. ... „Sie ging raus, um Wasser zu holen, und ist nicht zurückgekommen. Sie ist schon lange weg." ... Ich ging, um nach Suse zu suchen. Bei der Pumpe war sie nicht. Ich fand sie in einiger Entfernung im Schlamm liegend. Ihr Blick war glasig, leer, aber einen Augenblick lang bemerkte ich nicht, dass sie tot war. „Suse, wir sind frei!", rief ich aus. „Wir sind frei, der Krieg ist vorbei!" ... Als ich sie berührte, verstand ich ... Ich erzählte es Liesel nicht. Es war zu traurig für den Tag der Befreiung.
Vier Tage später, am 10. Mai, starb im Krankenhaus von Volary auch Liesel.
Am 8. Mai 1945, zwei Tage, nachdem sie erstmals den Fabrikschuppen in Volary betreten hatten, eröffneten die Amerikaner eine umfassende Untersuchung, um festzustellen, was diese Frauen durchgemacht hatten und wie sie in den katastrophalen Zustrand geraten waren, in dem man sie vorfand. Während der Untersuchung wurden Zeugenaussagen von einigen der Überlebenden des Marsches und von einigen der SS-Frauen, die den Marsch begleitet hatten und später gefasst wurden, aufgenommen. Die Untersuchung wurde von Oberstleutnant Robert F. Bates von der 5. Infanteriedivision geleitet. Neben den Zeugenaussagen enthält der Bericht schockierende Fotos der Überlebenden nach Ankunft der Amerikaner in Volary sowie Angaben zu ihrem Gesundheitszustand.
„...als ich den Raum betrat, glaubte ich, es läge dort eine Gruppe von Männern ... Zu diesem Zeitpunkt schätzte ich ihr Alter auf zwischen fünfzig und sechzig Jahre. Ich war überrascht und schockiert, als ich eines dieser Mädchen nach ihrem Alter fragte und es sagte: „siebzehn", da ich es für nicht jünger als fünfzig hielt..."
Major Aaron S. Cahan, (Sanitätsoffizier der US-Armee), Volary, 7. Mai 1945
Das deutsche Militärlazarett in Volary war in einem vierstöckigen Schulgebäude untergebracht. Am 7. Mai 1945 wurden die 118 Frauen aus dem Schuppen der Möbelfabrik in die beiden Untergeschosse des Militärlazaretts verlegt, nachdem man die verwundeten deutschen Soldaten hinausbefördert hatte. Sie waren in schrecklichem Zustand. Die meisten von ihnen wogen zwischen 30 und 40 kg. 111 von ihnen litten an Unterernährung und schwerem Vitaminmangel. Viele waren an der Ruhr erkrankt. Fast alle waren mit Läusen übersät. Ihre Fußsohlen waren geschwollen, vernarbt und vereitert. Etwa zwanzig von ihnen hatten Frostbeulen.
Major Aaron S. Cahan, ein Sanitätsoffizier der US-Armee, wurde beauftragt, nach den Frauen zu sehen, ihre Überführung ins Lazarett zu beaufsichtigen und ihre Pflege zu leiten. Am Nachmittag des 7. Mai kam er in den Schuppen der Möbelfabrik von Volary. In seiner Zeugenaussage vom 9. Mai berichtet er folgendes:
Der erste Blick auf diese Frauen schockierte mich außerordentlich: ich konnte es nicht fassen, dass ein Mensch so erniedrigt, so verhungert, so mager sein und unter solchen Umständen überhaupt existieren kann … wie Mäuse lagen sie übereinander, zu schwach, um auch nur einen Finger zu rühren… Als ich den Raum betrat, glaubte ich, es läge dort eine Gruppe von Männern… Zu diesem Zeitpunkt schätzte ich ihr Alter auf zwischen fünfzig und sechzig Jahre. Ich war überrascht und schockiert, als ich eines dieser Mädchen nach ihrem Alter fragte und es sagte: „siebzehn", da ich es für nicht jünger als fünfzig hielt… Etwa 75 Prozent der Frauen mussten auf Krankentragen hereingebracht werden. Die übrigen waren imstande, mit Hilfe anderer ihre erschöpften Körper zum Krankenwagen zu schleppen… Als Sanitätsoffizier der Vereinigten Staaten bin ich der Meinug, dass etwa die Hälfte dieser 118 Frauen gestorben wären, wenn man sie nicht entdeckt und auf angemessene Weise gepflegt hätte.
Trotz der Pflege starben 19 weitere Frauen im Lazarett, darunter die 25jährige Fela Szeps aus Dąbrowa Górnicza (Polen). Zum Zeitpunkt ihres Todes wog Fela 29 kg. Laut den Krankenakten sah sie aus wie eine Fünfundsiebzigjährige. Fela starb am 9. Mai im Lazarett von Volary. Das Foto der Sterbenden auf der hölzernen Pritsche wurde an die Soldaten des 2. Regiments der 5. Infanteriedivision verteilt.
Ein paar Tage später, am 13. Mai, starb auch die 17jährige Nadja Rypsztajn aus Lodz (Polen). Nadja und ihre drei Schwestern Fela Eisen, Guccia und Mina waren gemeinsam aus Schlesiersee losmarschiert. Guccia und Fela wurden unterwegs ermordet. Nur Mina (Heller) überlebte.
Im November 1945 starb die 17jährige Dora Ebbe aus Wiesbaden. Sie war die jüngste von vier Schwestern, die ab Grünberg an dem Marsch teilgenommen hatten. Ihre Schwestern Hanni, Nellie und Leah begruben sie auf dem Friedhof von Volary und verließen den Ort erst nach der traditionellen Trauerwoche („Schiw'a"). Die meisten der Überlebenden, die wieder zu Kräften kamen, verließen Volary im July 1945 und gelangten in DP-Lager.
Die Amerikaner richteten in Volary einen Friedhof für die Opfer des Todesmarsches ein. In Begleitung einiger Überlebender verfolgten sie die Marschroute der Frauen zurück, soweit dies in der begrenzten Zeit, die ihnen zur Verfügung stand, möglich war, und begruben die Frauen, die unterwegs umgekommen waren. Es befinden sich 95 Gräber im Friedhof von Volary.
Die Einwohner von Volary pflegen die Gräber seit Ende des Krieges bis zum heutigen Tag.
Alois Dörr, der Kommandant des Todesmarsches von Helmbrechts nach Volary, wurde 1969 in Hof vor Gericht gestellt. Für seine und für die Verbrechen seiner Untergebenen wurde er zu einer lebenslänglichen Gefängnisstrafe verurteilt. Nach 10 Jahren wurde er wegen schlechter Gesundheit freigelassen.
Karl Hermann Jäschke, der Kommandant des Todesmarsches von Schlesiersee nach Helmbrechts, wurde 1947 als Kriegsverbrecher in einem polnischen Gefängnis inhaftiert. Drei Jahre später wurde er freigelassen. Er starb 1970.
1995 leiteten die Justizbehören in Hof ein Verfahren gegen Inge Schimming (Aßmuß) ein, eine der SS-Frauen, die den Marsch begleitet hatten. Sie starb in Berlin, bevor sie vor Gericht gestellt werden konnte.
„Sie haben uns alles genommen, und nichts kann die Wunde heilen... wir sind fürs ganze Leben gezeichnet...."
Hanah Kotlicki
Nach einer Erholungszeit verließen die meisten Überlebenden des Todesmarsches Volary im Juli 1945.
Manche kehrten heim, in der Hoffnung, überlebende Angehörige zu finden, doch nur sehr wenige hatten Erfolg. Die meisten der Frauen gelangten in DP-Lager in Österreich, Deutschland und Italien. Dort begannen sie den langen und schmerzlichen Prozess des Wiederaufbaus ihres Lebens, während sie lernten, ihre Trauer, das Trauma der Kriegsjahre und den Verlust ihrer Angehörigen zu bewältigen.
Nach einer gewissen Zeit verließen die meisten der Frauen Europa und wanderten in andere Länder aus, hauptsächlich nach Eretz Israel und in die Vereinigten Staaten. Dort angekommen, mussten sie sich auf der Suche nach Arbeit und durch die unvermeidlichen Sprachbarrieren neuen Herausforderungen stellen. Sie heirateten, gründeten Familien und beteiligten sich am öffentlichen Leben. Die Familie hatte für sie die höchste Priorität, und es bereitete ihnen Freude und Erfüllung, ihren von Mord und Vernichtung betroffenen Familien zu neuem Leben zu verhelfen.