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Abgeordnete jüdischer Herkunft und Antisemitismus im Weimarer Reichstag

  1. „Erinnerungen“, im Nachlass von Julius Moses, zit. nach Dieter Fricke: Jüdisches Leben in Berlin und Tel Aviv 1933 bis 1939. Der Briefwechsel des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Moses. Hamburg 1997, S. 43; Kurt Nemitz: Bundesratufer. Erinnerungen. Oldenburg 2006, S. 65. Kurt Nemitz ist der Sohn von Julius Moses und Elfriede Nemitz (die Tochter der SPD-Politikerin Anna Nemitz). Er ist Nachlassverwalter und als Zeitzeuge (Jg. 1925) die wichtigste Quelle auch persönlicher Erinnerungen an Julius Moses. 
  2. Dr. med. Julius Moses (1868–1942) M.d.R.: 1920–Mai 1924, Dezember 1924–1932 (USPD, ab 1922 SPD); „Jude“ (eigene Angabe hier und im Folgenden zit. nach den Reichstagshandbüchern). Moses stammte aus einer traditionell jüdischen Familie in Posen und kam für eine gute Schulbildung mit 12 Jahren zu seinem Onkel nach Greifswald, wo er auch studierte. Seit 1902 lebte und arbeitete Moses als niedergelassener Arzt in Berlin. Zu weiteren Stationen seines Lebens s.u.
  3. Siehe Nemitz 2006, S. 67–72, hier S. 67.
  4. Zum Verfolgungsschicksal aller hier erwähnten Abgeordneten, siehe Martin Schumacher (Hg.): M.d.R. Die Reichstagsabgeordneten der Weimarer Republik in der Zeit des Nationalsozialismus. Politische Verfolgung, Emigration und Ausbürgerung 1933–1945. Düsseldorf 1994 (3. erhebl. erw. und überarb. Auflage).
  5. Seit 1900 beschäftigte sich Moses zehn Jahre lang stark mit der „jüdischen Frage“ bzw. dem deutsch-jüdischen Selbstverständnis und gab mehrere Bücher sowie ab 1902 die Wochenzeitung Generalanzeiger für die gesamten Interessen des Judentums heraus; vgl. Kurt Nemitz: Julius Moses publizistisches und politisches Engagement in der deutsch-jüdischen Presse nach 1900 und in der Gesundheitspolitik der Weimarer Zeit, in: Susanne Marten-Finnis/Michael Nagel (Hg.): Die PRESSA. Internationale Presseausstellung Köln 1928 und der jüdischer Beitrag zum modernen Journalismus. 2 Bände. Bremen 2012, S. 489–508.
  6. Dr. phil. Kurt Löwenstein (1885–1939) M.d.R.: 1920–Mai 1924, Dezember 1924–1933 (USPD, ab 1922 SPD); „Dissident“. Löwenstein kam aus einer ärmlichen jüdischen Familie in Bleckede an der Elbe. Mithilfe eines Stipendiums konnte er eine höhere Schule besuchen und studieren. Zwei Jahre absolvierte Löwenstein ein orthodoxes Rabbinerseminar, wurde dann jedoch Mitglied der Freireligiösen Gemeinde, Pädagoge und engagierte sich im linken Bund für Schulreform. Während des Krieges beim Roten Kreuz tätig. Seit 1918 bei der USPD, prägte er deren Bildungsprogramm. Er entwickelte die Idee der sozialistischen Kinderrepubliken. Löwenstein konnte mit seiner Familie 1933 nach Frankreich fliehen, wo er 1939 einem Herzinfarkt erlag.
  7. Aufgrund der Stigmatisierungen und der Verfolgungssituation nach 1933 wurde für Deputierte mit jüdischem Familienhintergrund der verallgemeinernde Ausdruck „Abgeordnete jüdischer Herkunft“ gewählt; vgl. zur Definition z.B. Ernest Hamburger/Peter Pulzer: Jews as Voters in the Weimar Republic, in: Leo Baeck Institute Year Book XXX (1985), S. 3–66.
  8. Dr. jur. Kurt Rosenfeld (1877–1943), M.d.R.: 1920–1930, „konfessionslos“. Rosenfeld war der Sohn eines jüdischen Fabrikbesitzers aus Marienwerder, trat ca. 1899 in die SPD ein und aus der Religionsgemeinschaft aus. Er war 1914 Rosa Luxemburgs Anwalt. 1914–1918 diente er als Soldat und engagierte sich gleich darauf im Vorstand der USPD. Der Mitgründer der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands floh nach dem Reichstagsbrand am 27/28. Februar 1933 außer Landes und konnte mit seiner Frau in die USA emigrieren.
  9. Stenographische Berichte des Reichstags (RT-Protokolle), Band 344, 17. Sitzung am 3.8.1920, S. 632B.
  10. Anlagen zu den RT-Protokollen, Band 364, Drucksache Nr. 568 vom 30. September 1920.
  11. Neuköllner Tageblatt vom 23.9.1920, zit. nach Werner Korthaase: Neuköllner Schulpolitik im Dienste der Arbeiterschaft – Dr. Kurt Löwenstein als Kommunalpolitiker, in: Gerd Radde/Bezirksamt Neukölln (Hg.): Schulreform. Kontinuitäten und Brüche. Das Versuchsfeld Berlin-Neukölln. Opladen 1993, S. 130–145.
  12. Löwenstein wurde z.B. in einem Leserbrief unterstellt, er „jüdelt oder [spreche] gar jiddisch“ und sei eine „jüdische Herausforderung“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ), Nr. 430 vom 15.9.1920 „Goj Löwenstein“.
  13. Löwenstein berichtete, die Radaumacher hätten Abzeichen getragen: „nämlich das Hakenkreuz und […] schwarz-rot-weiße Fähnchen oder was es sonst noch an solchen Albernheiten gibt“, in: RT-Protokolle, Band 348, 85. Sitzung am 15.3.1921, S. 3016C.
  14. RT-Protokolle, Band 356, 254. Sitzung am 18.7.1922. S. 8692B. 
  15. Ein KPD-Abgeordneter, der „Schamlose Behauptung!“ gerufen hatte, wurde im Gegensatz zum rechten Zwischenrufer vom amtierenden Präsidenten Johannes Bell (Zentrum) gerügt, RT-Protokolle, Band 381, 27. Sitzung am 29.8.1924, S. 1115A. In derselben Sitzung war bereits der nichtjüdische Demokrat Alfred Brodauf als „Jude“ beschimpft worden (vgl. ebd., S. 958–959, 972C, 1080D). Dass Brodauf den mehrfachen Unterstellungen, er sei Jude, nicht widersprach, werte ich als Solidarisierung mit den stigmatisierten jüdischen Deutschen.
  16. Iwan Katz (1889–1956), M.d.R.: 1924–1928 (für die KPD, seit 1926 parteilos), „religionslos“. Katz kam aus einer wohl nicht religiösen jüdischen Familie in Hannover; Studium u.a. der Volkswirtschaft und der Stadtplanung. Seit 1906 „in der Arbeiterbewegung tätig“; Kriegsteilnehmer und Leutnant. 1921–1924 im preußischen Landtag für die KPD. Katz, seit 1928 nicht mehr politisch aktiv, wurde 1933 und danach mehrfach verhaftet, konnte 1941 aus einem Berliner Lager fliehen. 1944 im Zusammenhang mit der Aktion „Gitter“ erneut festgenommen und ins KZ Auschwitz deportiert, bei Kriegsende ist er aus dem KZ Mauthausen befreit worden. Katz ging nach Ostberlin, kam aber 1948 mit der SED in Konflikt und lebte seit 1954 in der Schweiz.
  17. In: Arbeitszentrale für völkische Aufklärung/Presseleitung der Nationalsozialistischen Freiheitspartei (Hg.): Charakterköpfe des Deutschen Reichstags. Zeichnungen von Totila [d.i. Hans Diebow]. Berlin 1924 (ohne Paginierung, Auflagenhöhe unbekannt).
  18. Dr. jur. Erich Koch-Weser (1875–1944) M.d.R.: 1920–1930, war bereits seit 1901 als Bürgermeister in der Politik tätig, 1919–1921 Innenminister, 1928/29 Justizminister; „evangelisch“. Koch stammte aus Bremerhaven, die jüdische Herkunft der Mutter spielte im Selbstverständnis der Familie keine Rolle. Seit 1918 DDP-Mitglied, 1924–1928 Fraktionsvorsitzender. Er befürwortete die Fusion mit dem Jungdeutschen Orden zur Deutschen Staatspartei und zog sich nach dem Wahldebakel 1930 aus der Politik zurück. 1933 emigrierte Koch-Weser, nachdem ihm als „Halbjude“ die Anwaltslizenz entzogen worden war, nach Brasilien.
  19. RT-Protokolle, Band 381, 25. Sitzung am 27.8.1924, S. 971C.
  20. RT-Protokolle, Band 384, 23. Sitzung am 13.2.1925, S. 584B.
  21. Georg Bernhard (1875–1944) M.d.R.: 1928–1930; „mosaisch“. Bernhard kam aus einer jüdischen Familie in Berlin. Nach einer Banklehre wurde er Wirtschaftsredakteur u.a. im Ullstein Verlag. Seit 1913 Chefredakteur des liberalen Blattes Vossischen Zeitung. Mitglied im Reichswirtschaftsrat und Dozent an der Handelshochschule. Seit 1924 DDP-Mitglied. Bernhard emigrierte 1933 nach Frankreich, noch bevor seine Schriften auf den Scheiterhaufen der Bücherverbrennung am 10. Mai brannten. Bernhard gründete das Pariser Tageblatt. 1940 wurde er mit seiner Frau im südfranzösischen Lager Bassens interniert, konnte aber entkommen und gelangte mit Hilfe von Varian Frys Fluchtorganisation 1941 in die USA, wo er es nicht mehr schaffte Fuß zu fassen.
  22. RT-Protokolle, Band 425, 78. Sitzung am 6.6.1929, S. 2116B.
  23. Den Politikern Löwenstein, Rathenau und Bernhard wurde jeweils von DNVP-Abgeordneten vorgeworfen, „Dialektik“ zu gebrauchen: RT-Protokolle, Band 348, 85. Sitzung am 15.3.1921, S. 3014–3016; RT-Protokolle, Band 349, 112. Sitzung am 4.6.1921, S. 3798–3799; RT-Protokolle, Band 425, 78. Sitzung am 6.6.1929, S. 2110C; Erich Koch-Weser dichtete die DvFP einen „talmudistischen Geist“ an (RT-Protokolle, Band 381, 25. Sitzung am 27.8.1924, S. 976D); Partei-Bonzen zu sein, wurde mehreren Abgeordneten jüdischer Herkunft unterstellt, s.o. Iwan Katz und s.u. Tony Sender. 
  24. Dr. jur. Ludwig Haas (1875–1930), seit 1912 M.d.R. für die Fortschrittliche Volkspartei, 1919–1930 für die DDP und im Parteivorstand; „jüdisch“. Haas stammte aus einer jüdischen Familie aus Freiburg, Kriegsteilnehmer 1914–1918 und Kompanieführer. Er war ein bekanntes Mitglied im Vorstand des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und im Reichsbund jüdischer Frontsoldaten.
  25. RT-Protokolle, Band 381, 14. Sitzung am 28.6.1924, S. 430A. Der nichtjüdische Sozialdemokrat Karl Hildenbrand sprang Haas bei: „Wenn deutsche Gerichte jetzt häufig in die Lage kommen, Verhandlungen zu führen, die den Anschein erwecken, als ob es sich um Schutz der Juden handle, so hat das seinen Grund darin, daß der Antisemitismus dessen sich Deutschland vor der ganzen Welt schämen muß, und die ihn ausnützenden Parteien, wie die Deutschvölkische Freiheitspartei, sich nicht schämen, Mitbürger, die sich für die Interessen des deutschen Vaterlandes und der deutschen Volkes bemühen, nur deshalb öffentlich beschimpfen, weil sie Juden sind.“ (ebd., S. 432A).
  26. Dr. med. Rudolf Hilferding (1877–1941), M.d.R.: 1924–1933 für die SPD, zweimal Reichsfinanzminister; „konfessionslos“. Hilferding wuchs in einer jüdischen Familie in Wien auf. Seit 1907 für die SPD im Berliner Vorwärts tätig und führender Parteitheoretiker. Er floh 1933 nach Frankreich, wo er vom Vichy-Regime an die Deutschen ausgeliefert wurde. Hilferding beging in Gestapo-Haft in Paris vermutlich Selbstmord.
  27. RT-Protokolle, Band 394, 352. Sitzung am 6.12.1927, S. 11865D.
  28. RT-Protokolle, Band 425, 96. Sitzung am 26.6.1929, S. 2979B. Einige Zwischenrufe von der Linken machten sich in ihrer üblichen Kampfesweise über die Rede lustig, der amtierende Präsident Siegfried von Kardorff (DVP) griff aber nicht ein. Dagegen ergriff der nichtjüdische Abgeordnete Wilhelm Külz (DDP) nur deshalb das Wort, um die Aussagen Reventlows deutlich zurückzuweisen (vgl. ebd. S. 2979D), ein äußerst seltener Vorgang.
  29. Ernst Heilmann (1881–1940), M.d.R.: 1928–1933; „religionslos“. In einer nicht religiös geprägten jüdischen Familie in Berlin groß geworden, studierte Heilmann Rechtswissenschaften, erhielt jedoch wegen seiner SPD-Mitgliedschaft 1903 keinen Referendariatsplatz. Seither journalistisch für die Partei tätig. Kriegsteilnehmer. Seit 1919 Stadtverordneter und Landtagsmitglied. Heilmann wurde im Juni 1933 verhaftet, gefoltert und in verschiedene KZ verschleppt, bis er am 3. April 1940 im KZ Buchenwald ermordet wurde.
  30. RT-Protokolle, Band 425, 85. Sitzung am 13.6.1929, S. 2424A. An dieser Stelle kam von Reichstagspräsident Löbe keine Rüge. Die Nichtreaktion des Hauses auf die erste direkte Mordandrohung gegen ein Mitglied des Hauses wirkt auf uns heute besonders hart. Allerdings muss das Dilemma der Weimarer Antifaschisten bedacht werden: Skandalisierten sie den Judenhass, boten sie den Rednern ein Forum, in dem sie ihren „rasenden Irrsinn des Antisemitismus“, (so der nichtjüdische KPD-Abgeordnete Wilhelm Koenen, in: RT-Protokolle, Band 381, 14. Sitzung am 28.6.1924, S. 431B) noch weiter ausbreiten konnten.
  31. Angestellte und Redakteurin Tony Sender (1885–1964), M.d.R.: 1920–1933 (USPD, ab 1922 SPD); „Dissidentin“. Sender stammte aus einem gutbürgerlichen orthodox-jüdischen Elternhaus in Biebrich (bei Wiesbaden). Sehr früh brach sie mit dem vorgezeichneten Weg, machte eine kaufmännische Ausbildung und verdiente ihren Lebensunterhalt selbst. 1910 Eintritt in die SPD, seit Kriegsbeginn pflegte Sender internationale pazifistische Kontakte. In Frankfurt am Main war sie während des Krieges und der Revolutionszeit neben Robert Dißmann die wichtigste Figur der USPD, 1919 wurde sie als einzige weibliche Deputierte ins Frankfurter Stadtparlament gewählt. Die Bedingungen für Arbeiterinnen und Arbeiter, Gewerkschafts- und besonders Wirtschaftsfragen waren im Reichstag ihre Spezialgebiete. Die Diffamierungen, die sie in anonymen Briefen und von der politischen Rechten erfuhr, waren oft sexualisiert-antisemitischer Art, wie: sie sei die „Sozialistische Attraktion im Reichstag“ (in: Broschüre Charakterköpfe s.o., Anm. 17). Ab 1932 wurde Sender in Pamphleten der DNVP und der NSDAP gar als Prostituierte beschimpft. Anfang März 1933 floh Tony Sender außer Landes und konnte in die USA auswandern, 1943 wurde sie amerikanische Staatsbürgerin. Toni Sender: The Autobiography of a German Rebel. New York 1939, S. 294–297; Jürgen Steen/Historisches Museum Frankfurt (Hg.): Tony Sender 1888–1964. Rebellin, Demokratin, Weltbürgerin. Frankfurt a.M. 1992, S. 42f.
  32. Sender 1939: 278 (wie Anm. 31).
  33. RT-Protokoll, Band 444, 4. Sitzung am 17.10.1930, S. 103A.
  34. Dr. jur. Fritz Löwenthal (1888–1956); M.d.R. 1930–1932; „konfessionslos“. Löwenthal wuchs in einer jüdischen Familie in München auf, studierte Psychologie, Nationalökonomie und Rechtswissenschaft. 1917 wurde er zum Militärdienst eingezogen. 1913–1923 SPD-Mitglied, 1927 Eintritt in die KPD, Vorsitzender der Internationalen Juristenvereinigung und in der Roten Hilfe Deutschland engagiert. Löwenthal floh 1933 zunächst nach Frankreich, dann in die Sowjetunion, wo er u.a. als „Politlehrer“ in deutschen Kriegsgefangenenlagern tätig war. Er kehrte 1946 aus der Emigration zurück und ging 1947 nach Westdeutschland. Für die SPD war er Mitglied des Parlamentarischen Rates 1948/49. Erhard Lange: Friedrich Löwenthal (SPD) im Parlamentarischen Rat (2008), (zuletzt geprüft am 3.8.2012).
  35. Dies und die folgenden Zitate, siehe RT-Protokolle, Band 444, 12. Sitzung am 10.12.1930, S. 504–507.
  36. Siehe für diesen Zusammenhang Moses eindrückliche Reichstagsrede zum Thema Republikschutz kurz nach dem Mord an Walther Rathenau, RT-Protokolle, Band 356, 245. Sitzung am 6.7.1922, S. 8325–8332