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Überlebendenberichten aus Yad Vashem

Überlegungen zur pädagogischen Arbeit mit audiovisuellen

Dr. Tobias Ebbrecht-Hartmann
  1. Vgl. zum Umgang mit Überlebendenberichten im Medium des Films meinen Artikel „Zeugen der Shoah“ in dieser Ausgabe des Yad Vashem E-Newsletters.

Im Rahmen des Projekts „Witnesses and Education“, das von der International School for Holocaust Studies Yad Vashem seit einigen Jahren in Kooperation mit der Hebräischen Universität Jerusalem durchgeführt wird, sind bisher sieben Filme von rund 50 Minuten Länge entstanden, von denen sechs mit deutschen Untertiteln verfügbar sind. Dadurch ist es möglich, einzelne Filme im Rahmen des Schulunterrichts zu sichten und zu diskutieren.

Die Filme dokumentieren die Lebenswege von jüdischen Überlebenden, die heute in Israel leben. Sie folgen alle dem Konzept, über das Leben der Protagonisten vor, während und nach der Verfolgung zu berichten. Die Überlebenden erzählen dabei selbst von ihrem Leben und werden lediglich durch informierende Zwischentitel ergänzt, die historische Ereignisse einblenden oder Zeitsprünge überbrücken. Dadurch ist es möglich, mit den Filmen im Rahmen des pädagogischen Konzepts der International School for Holocaust Studies Yad Vashem zu arbeiten. Im Folgenden sollen zwei Filme aus der Reihe vorgestellt und mit filmanalytischen und didaktischen Überlegungen verknüpft werden. Die Ausführungen sind als Konkretisierung meiner ebenfalls in dieser Ausgabe des Newsletters dargelegten Überlegungen zum Umgang mit Überlebendenberichten im Medium Film zu sehen1.

Die Geschichte von Ovadia Baruch

Dem grenzüberschreitenden Charakter des Projekts folgend, beginnt der Film „Dir in Liebe Gedenken“ mit den Erinnerungen von Ovadia Baruch an Griechenland und seine Heimatstadt Saloniki. Die Kamera folgt ihm durch die Straßen des heutigen Thessaloniki. Heute, im Alter eines Großvaters, erinnert sich Ovadia an seine Kindheit. Er besucht das Viertel, in dem er mit seiner Familie wohnte, Plätze, an denen er mit Freunden gespielt hat und erinnert sich an Streiche, die er seinen Eltern oder Lehrern gespielt hat. Diese Erinnerungen vermitteln durch die Präsenz des Zeugen vor der Kamera die Sicherheit, dass der Erzähler die schrecklichen Ereignisse überlebt hat. Zum anderen aber vermitteln die Kindheitserinnerungen an Schule, Freunde und Elternhaus einen Zugang für die heute angesprochenen, ungefähr gleichaltrigen Zuseher. Das gegenwärtige Thessaloniki bietet eine vielschichtige Kulisse für die Erzählung. Auf der einen Seite wird versucht, über die Auswahl der gefilmten Orte Assoziationen zur Vergangenheit herzustellen. Andererseits aber wird auch die Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, beispielsweise durch den unterschiedlichen Charakter von historischen Schwarzweißbildern und den schnell geschnittenen Farbaufnahmen aus der Gegenwart und den damit verbundenen visuellen Effekten deutlich.

Die ästhetische Gestaltung unterstützt dabei größtenteils die Erzählung, ohne diese bloß zu illustrieren. Allerdings sollte bei der Analyse auch kritisch nach den verwendeten Stilmitteln gefragt werden. Insbesondere die Musik bekommt an einigen Stellen des Films eine sehr aufdringlich emotionalisierende Dimension und gerät in Gefahr, die Erinnerungen zu überlagern oder zu sentimentalisieren. Auch die mitunter übertrieben schnelle Montage und die Verwendung von Reißschwenks können der Aufmerksamkeit abträglich sein.

Die Hauptfunktion der Montage ist jedoch, Gegenwart und Vergangenheit sichtbar aneinander zu fügen, und dabei die unterschiedlichen Zeiten miteinander zu überblenden, ohne ihre Differenz völlig unkenntlich werden zu lassen. Der Film ermöglicht so einen visuell unterstützten und emotionalen Zugang zur Geschichte Ovadia Baruchs.

Die Zuseher folgen ihm im weiteren Verlauf auf seinem Lebensweg, werden Zeugen der wachsenden Ausgrenzung und schließlich der Deportation, die ihn mit einem Transport griechischer Juden in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz führt.
In dieser Szene blenden besonders eindrucksvoll die verschiedenen Zeiten ineinander. Ovadia Baruchs Zugfahrt in der Gegenwart wird durch seine Erinnerungen an die Deportation im Viehwaggon mit dem vergangenen Leidensweg verbunden. Verstärkt wird dies mit Reißschwenks in Zeitlupe, die den traumatischen Charakter der Erinnerung symbolisieren sollen, dabei aber in Gefahr geraten, mit visuellen Effekten die Erzählung zu überlagern. Dennoch vermeidet der Film es bewusst, den Schrecken nachzustellen und damit zu versuchen die Enge, den Durst und die Angst darstellen zu wollen. All das vermittelt sich ausschließlich über den gesprochenen Bericht, die suggestiven Bilder, die Vermischung von Archivfilmmaterial und Gegenwartsaufnahmen, sowie der Erschütterung des Zeugen Ovadia Baruch.

In Auschwitz begegnet Ovadia ganz zufällig einer jungen Frau aus seiner Heimatstadt. Die beiden verlieben sich ineinander und an diesem Ort des Schreckens entwickelt sich eine Liebesgeschichte, bedroht von der permanent lauernden Vernichtung. So bekommt der Film eine besondere Spannung im Konflikt zwischen dem äußersten Schrecken und den innersten Gefühlen. Der Film endet mit Ovadias Befreiung, seiner Rückkehr nach Griechenland, seinem Wiedertreffen mit der geliebten Weggefährtin und der gemeinsamen Auswanderung nach Israel. So erzählt er – im Einklang mit der pädagogischen Konzeption von Yad Vashem – nicht nur die Geschichte von Verfolgung und Vernichtung, sondern auch vom Leben vor der Shoah und dem Überleben danach.

Die Geschichte von Malka Rosenthal

Der Film „Für dich wird sich der Himmel öffnen“ erzählt die Geschichte von Malka Rosenthal, die in einem Versteck den Holocaust in Polen bzw. der Ukraine überlebte und 1948 als vierzehnjähriges Mädchen nach Israel einwanderte. Ihre Erinnerungen sind von permanenten Identitätskonflikten durchzogen. Schon unmittelbar nach dem Einmarsch der Deutschen merkt sie, dass sie plötzlich anders ist, als ihre Freunde. Plötzlich ist sie Jüdin. Wir können hier sehen, wie sich die Ausgrenzung auf die eigene Selbstwahrnehmung auswirkt, wie ein junges Mädchen in Identitätskonflikte geworfen wird, die sich angesichts der sich zuspitzenden Bedrohung noch verstärken. Der Verlust eines sicheren Zuhauses, die Angst, Familie und Eltern zu verlieren, bestimmen das weitere Leben und stellen das Mädchen vor übermenschliche Herausforderungen. Eine zentrale Entscheidungssituation in Malkas Geschichte ist ihre Flucht mit der Mutter in einem Zug. Dabei versuchen sie sich als Nichtjüdinnen auszugeben, um sich vor dem Antisemitismus und der Denunziation ihrer Mitreisenden zu schützen. Plötzlich beginnen einige der Mitreisenden die Mutter zu beschimpfen und machen die anderen darauf aufmerksam, dass sich verbotener Weise Juden in dem Abteil befinden. Während Malka Rosenthal dieses Ereignis aus ihrer Erinnerung wiedergibt, sehen wir sie als alte Frau in einem Zug in der heutigen Ukraine. Die Kamera schwenkt dabei durch die Bankreihen. Plötzlich meldet sich ein Mann und erklärt, er werde die Frau und das Mädchen an seinem Heimatbahnhof der Gestapo übergeben. Er fordert die Mitreisenden auf, ihn zu begleiten. Keiner meldet sich. Als er brutal Malka und ihre Mutter auf den Bahnsteig gezerrt und mit ihnen einige Meter gegangen ist, gibt er sich als früherer Bekannter zu erkennen und bietet den beiden seine Hilfe an. 

Ganz verdichtet zeigt diese Szene nicht nur den Zwang für Malka, sich permanent zu verstellen, andere Identitäten anzunehmen und schließlich kaum mehr zu wissen, wer man wirklich ist. Sie verdeutlicht auch die Entscheidungen der Umwelt. Sie zeigt verschiedene Handlungsoptionen, die von antisemitischen Angriffen und Verrat über unbeteiligtes Zusehen bis zur Hilfe reichen, wobei hier der Retter sich wiederum selbst durch Verstellung schützen muss. Diese Szene bietet zahlreiche Anknüpfungspunkte für die pädagogische Arbeit.

Beispielsweise kann sie szenisch aufgeschlüsselt werden, um die Haltungen, Positionen und Entscheidungen der um Malka und ihre Mutter herumsitzenden Fahrgäste nachzuvollziehen. Auch ist es möglich, einen Bericht über das Ereignis aus der Perspektive des Mannes zu verfassen, der sich selbst verstellen muss, um Malka und ihrer Mutter zu helfen.Schließlich verstecken sich Malka und ihre Mutter auf einem Bauernhof und finden dort den Vater wieder. Bei einer Razzia durch deutsche Soldaten wird die Mutter ermordet. Vater und Tochter fliehen in den Wald. Wieder begegnet Malka zahlreichen Gefahren und muss sich verstecken. Der Film betont dies durch Unschärfen und wackelige Kameraführung. Schließlich verliert Malka auch ihren Vater, der sich den Partisanen anschließt, und überlebt allein versteckt in einem Fass in einer Scheune.

Ihre gesamte Welt verengt sich auf die Größe eines Fasses. Nur die Fantasie ermöglicht es Malka, ihrem Gefängnis, das gleichzeitig ihr einziger Schutz vor der Verfolgung ist, zu entfliehen. Diese Momente versucht der Film szenisch hervorzuheben. Gegenwart und Erinnerung werden ineinandergeschoben. Mit Hilfe von filmischen Effekten wie Zeitlupe und Unschärfen und durch symbolträchtige Bilder wie Aufnahmen des Fasses, einer Puppe oder eines Hundes werden Phantasie und Vorstellung für die Zuschauer deutlich gemacht. Subjektive Kamerabewegungen verdeutlichen die Situation des Verstecks im Fass aus der Perspektive des Mädchens. Dazwischen sehen wir immer wieder die Zeugin, die erzählt und deren Gesicht von den sie emotional überwältigenden Erinnerungen gezeichnet ist. Diese Szene kann bei der Arbeit mit dem Film herausgelöst und besonders untersucht werden. Zunächst sollte dabei die Besonderheit der Situation vergegenwärtigt werden: die erzwungene Unfreiheit und Beengtheit durch das Versteck, die den kindlichen Drang nach Spiel und Bewegung fundamental eingrenzen, dann aber auch die Macht der Phantasie und der Vorstellung, die dazu beitragen, sich nicht selbst aufzugeben und zu verzweifeln. Schließlich aber auch die Frage nach den Perspektiven der anderen Beteiligten, vor allem nach den Gefahren und Einschränkungen, die die Familie auf sich nimmt, die Malka versteckt.

Am Ende des Krieges weiß Malka selbst nicht mehr, wer sie ist, was sie denken und fühlen soll. Sie fühlt sich als Polin. Sie möchte keine Jüdin mehr sein. Sie lässt sich taufen und hofft auf diese Weise auf die Seite „der Sieger“ wechseln zu können, die nicht in einem Fass eingesperrt werden und ihre Familie verlieren.

Wieder werden wir Zeugen eines fundamentalen Identitätskonfliktes, der durch die kaum zu verarbeitende Verfolgungs- und Verlusterfahrung ausgelöst wurde. Erst nach ihrer Befreiung, auf ihrem Weg nach Palästina, am Beispiel des Flüchtlingsschiffes Exodus, dessen schicksalsträchtige Geschichte für das kollektive Gedächtnis in Israel von großer Bedeutung ist, findet sie einen neuen Ort für sich, ihr Leben und einen Neuanfang.

Umgang mit den Filmen

Wie in den pädagogischen Ansätzen von Yad Vashem üblich, endet auch die Geschichte von Malka Rosental nicht mit dem Ende des Krieges und der Befreiung aus ihrem Versteck. In den letzten Szenen des Films begleiten wir sie auf ihrem Weg nach Israel, werden Zeugen, wie sie sich dort ein neues Leben aufbaut und eine neue Familie gründet. Schließlich hören und sehen wir ihr ganz persönliches Vermächtnis, sehen ihre Trauer und Traurigkeit und nehmen Anteil an ihren Erinnerungen.

In diesen letzten Minuten des Films, in denen Malka vor allem an die Stärke ihrer Mutter erinnert und ihr für ihr Überleben dankt, zeigt sich ganz deutlich, dass es in diesen Zeugnissen nicht nur um die Geschichte, um den Ablauf historischer Fakten und Tatsachen geht, die sich damals ja einem zehnjährigen Mädchen gar nicht erschließen konnten. Es geht vielmehr um Erinnerungen, um ein Zeugnis, das zu bewahren versucht, was verloren ist: das Andenken an jene, die von den Nazis ermordet wurden und nicht mehr von dem zeugen können, was ihnen angetan wurde, und die Erinnerung an die verlorenen Orte der Kindheit, an die der Film zwar zurückkehrt, die er aber immer in ihrer Gegenwärtigkeit zeigt. So bleibt bei aller Empathie und Anteilnahme, die Distanz zwischen unserer Gegenwart und der erlebten und bezeugten Vergangenheit der Zeugen immer gewahrt. Darauf sollte auch im schulischen Kontext immer geachtet werden. Dazu bietet es sich an, den Lernenden Grundkenntnisse in kritischer Medienanalyse zu vermitteln, um ein Bewusstsein über stilistische und dramaturgische Verfahren zu vermitteln. Dazu können auch einzelne Szenen gemeinsam analysiert werden. Um in der Auseinandersetzung mit den Filmen einen Medienwechsel vorzunehmen, können auch Passagen der Erzählung transkribiert und ohne die zugehörigen Bilder analysiert und diskutiert werden. Die Lernenden können dabei überlegen, wie sie die Erinnerungspassagen illustrieren würden, wenn sie ein Buch über die Schicksale der Protagonisten gestalten würden. Diese Illustrationen können später mit den Visualisierungen der Filme verglichen werden.

Ein Medienwechsel kann auch durch die Kontrastierung oder Ergänzung mit anderen thematisch ähnlich orientierten Materialien erreicht werden. Insbesondere für die Geschichte Malka Rosenthals bietet sich dazu der Rückgriff auf die von Yad Vashem publizierten Bücher „Gern wäre ich geflogen wie ein Schmetterling“ und „Die Tochter, die wir uns immer gewünscht haben“ an. In beiden Büchern können die Lernenden Aspekte der Lebensgeschichte von Malka wiederfinden. Während „Gern wäre ich geflogen wie ein Schmetterling“ ebenfalls die Erfahrung der Isolation und Eingeschlossenheit im Versteck thematisiert, das nur gedanklich, unter Rückgriff auf die Phantasie, verlassen werden kann, bietet das Buch „Die Tochter, die wir uns immer gewünscht haben“ die Möglichkeit einer vertieften Auseinandersetzung mit Fragen der Identität und Identitätsbrüche durch die Verfolgung während des Holocaust.

Die vorgestellten Filme eignen sich daher vor allem als Einstieg oder Abschluss einer Unterrichtseinheit über das Thema Holocaust, weil sie einerseits Fragen über historische Zusammenhänge eröffnen und in der Gegenwart der Protagonisten ansetzen, andererseits aber den Blick auf den persönlichen und medialen Umgang mit den Erinnerungen an den Holocaust weiten.

 

Tobias Ebbrecht ist Film- und Medienwissenschaftler und hat zuletzt die Studie „Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust“ (Bielefeld, 2011) veröffentlicht. Er forscht über die Wechselwirkung von Medien und Geschichtsschreibung an der Bauhaus Universität Weimar. Bis 2010 war er pädagogischer Mitarbeiter der ISHS in Deutschland.