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Erinnerungen von Helga Becker-Leeser

Ein Projekt der Geschichts-AG der Dülmener Hermann-Leeser-Realschule

Dr. Andrea Peine und Theo Schwedmann

Im Rahmen des Bildungspartnerkongresses 2015 der Medienberatung des Landes Nordrhein-Westfalen mit dem Schwerpunktthema „Memory-Erinnern will gelernt sein“ ist das Buchprojekt der Hermann-Leeser-Realschule, Dülmen, „Von allem etwas…“ Ende September 2015 neben zwei weiteren Schulen ausgezeichnet worden.

Die Hermann-Leeser-Realschule war 2013 die erste Schule Nordrhein-Westfalens, die eine Schulpartnerschaft mit der International School for Holocaust Studies, Yad Vashem, einging. Das Buch, das sich mit der jüdischen Kindheit der Holocaust-Überlebenden Helga Becker-Leeser in Dülmen und in Rotterdam beschäftigt, war von der Geschichts-AG der Schule unter der Leitung der Lehrerinnen Dr. Andrea Peine und Gerda Küper, beide Yad Vashem Graduates, sowie dem Leiter des Stadtarchives Dr. Stefan Sudmann erarbeitet worden. Die wissenschaftliche Begleitung lag bei Dr. Noa Mkayton, Deputy Director of the European Department, International School for Holocaust Studies/Yad Vashem, des German Desk, International School for Holocaust Studies/Yad Vashem und Theo Schwedmann, dem langjährigen Leiter des NRW-Fortbildungsprojektes „Erziehung nach Auschwitz“. Unterstützt wurde die Arbeit vom Vorsitzenden des Heimatvereins Dülmen, Erik Potthoff, dem Künstler Udo Schotten und der Graphik-Designerin Christiane Daldrup.

Die Medienberatung NRW fördert im Rahmen des Wettbewerbes „Kooperation.Konkret“ die langfristige Kooperation zwischen Schulen und außerschulischen Lernorten. Im vergangenen Jahr waren Konzepte und Ideen gefragt, die neue Wege im Themenfeld „Erinnern & Gedenken“ aufzeigen und beschreiten. Aus den zahlreichen Einsendungen wurden drei für das Schuljahr 2014/2015 geplante Projekte von einer interdisziplinär besetzten Jury ausgewählt. Bei der Preisverleihung vor über 300 Teilnehmern begründete die Jury ihre Entscheidung:

„Die Gewinnerbeiträge zeigen, wie kommunale Bildungs- und Kultureinrichtungen das schulische Lernen bereichern können. So entstehen Lernarrangements, die durch spannende Methoden und Praxisbezug Schülerinnen und Schüler begeistern können“.

Außerdem wurde der freiwillige Einsatz der Schüler besonders hervorgehoben, die über ein Jahr lang regelmäßig außerhalb des Unterrichts zusammenkamen und an ihrem Buch arbeiteten.
Die von Helga Becker-Leeser persönlich aufgeschriebene Geschichte wurde von dem Team in Form einer Graphic Novel umgesetzt, einer Idee, die von der Überlebenden begeistert aufgenommen wurde. Ihr Vater, Hermann Leeser, der Namensgeber der Schule, war ein jüdischer Unternehmer, der seiner Familie durch seinen Suizid 1938 die Emigration aus Nazi-Deutschland ermöglichen wollte. 

Helga Becker-Leeser beteiligte sich intensiv am Entstehungsprozess des Werkes, das angereichert ist mit vielen Archivalien aus dem Stadtarchiv Dülmen und Archivalien, die der Heimatverein Dülmen zur Verfügung stellte.

Um die Geschichte umzusetzen, war Praxisbezug auf verschiedenen Ebenen unerlässlich: Die Schüler recherchierten im Dülmener Stadtarchiv nach aussagekräftigen Archivalien. Eine Zeitleiste, die ganz konkret Bezug nimmt auf die Geschichte der NS-Zeit vor Ort in Dülmen, wurde von den Schülern mit Unterstützung des Heimatvereins erstellt. Unendlich viel Sachwissen konnten sich die Schülerinnen und Schüler aneignen über die Geschichte der NS-Zeit bis heute, indem sie zu jedem gezeichneten Gegenstand und zu jeder Person, die gezeichnet wurde, umfangreiche Recherchen anstellen mussten. Etwa: „Wie sieht die BDM-Uniform aus?“ „Was ist eigentlich die Grüne Polizei“? „Frau Becker-Leeser, wo haben Sie damals gewohnt?“ oder etwa „Was meint der Terminus Gerechte unter den Völkern?“ Die Liste könnte um Hunderte weiterer Fragen erweitert werden. Eine besondere Fundgrube für die Arbeit war das Büchlein „Van Alles Wat“, das Helga und ihre Schwester Ingrid anlässlich des Geburtstages ihrer Mutter 1944 in ihrem Versteck in Rotterdam aufgeschrieben haben und das den Schülern zur Verfügung stand ebenso wie ein Fotoalbum aus der damaligen Zeit. Einige der Zeichnungen wurden auch von Schülerinnen und Schülern angefertigt. Außerdem entwickelten die Schülerinnen und Schüler, unter Mitwirkung von Dr. Noa Mkayton, des German Desk und Theo Schwedmann, auch ein anspruchsvolles Glossar rund um die Geschichte von Helga Becker-Leeser.

Kurz: Hier ist ein Buch von Jugendlichen für Jugendliche entstanden, das nachhaltig wirkt: Die Vertreibungsgeschichte wird in Gänze in den Blick genommen und umgesetzt. Der stetige direkte Kontakt zur Zeitzeugin macht die Auswirkungen von Verfolgung und Vertreibung einer Familie für die Schülerinnen und Schüler erfragbar und damit begreifbar. Damit haben die Schülerinnen und Schüler fundiertes historisches Wissen erworben, Empathie aufgebaut und Brücken geschlagen in Bezug auf ihr künftiges soziales Engagement.

Die Konzeption der Kombination aus Graphic Novel und Informationstexten, die beteiligte Schüler und Projektbeteiligte gleichsam dialogisch kommunizieren sowie die vielen Archivalien kommt der jugendlichen Zielgruppe dabei sehr entgegen, ist aber auch für jeden erwachsenen Leser äußerst ansprechend. Geht man zunächst von den am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schülern aus, ist festzuhalten, dass hier nicht allein das erworbene Wissen im Fokus steht, sondern auch der Zuwachs an Empathie und Verständnis für Migration. Es handelt sich bei der Geschichte von Helga Becker-Leeser auch um eine Migrationsgeschichte. Außerdem ist die positive Erfahrung des gemeinsamen gleichberechtigten Wirkens in einem multiprofessionellen Team über die Generationen hinaus von Bedeutung.

Des Weiteren ist festzustellen, dass hier ein Werk vorliegt, das sicherlich das Bewusstsein für politische Verantwortung schärfen wird und das Gefühl für die Notwendigkeit von Selbsthilfekräften in sozialen Problemlagen stärkt (Helfergeschichte). Da derzeit in der Sporthalle der Schule Flüchtlingsfamilien untergebracht sind und in vielen Klassen der Schule deren Kinder unterrichtet werden, kann das Thema der Flucht von Helga Becker-Leeser und der Flucht einzelner Klassenmitglieder sehr gut diskutiert werden.

Ein weiterer Höhepunkt für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für die am Projekt beteiligten Erwachsenen war die öffentliche Präsentation des Buches Ende Oktober in Dülmen. In der überfüllten Aula der Hermann-Leeser-Realschule im Beisein von Helga Becker-Leeser und ihrer Schwester Ingrid Leeser, die zum ersten Mal nach 1938 wieder in Dülmen war, stellte die Literaturwissenschaftlerin Gabriele Osthues, Leiterin des Fachbereichs Literatur in der Kath. Sozialakademie Franz-Hitze-Haus, Münster, und ebenfalls Yad Vashem-Graduate, das Buch und die Arbeit des Teams in beeindruckender Weise vor.

Dabei führte sie aus, dass die Schülerinnen und Schüler im besten Sinne des Wortes zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern geworden seien, die mutige Fragen nach dem Leben damals gestellt haben, um der Geschichte eines anderen Menschen auf die Spur zu kommen. Gleichzeitig hob sie den Einsatz der beteiligten Erwachsenen, insbesondere der beiden Lehrerinnen Dr. Andrea Peine und Gerda Küper hervor. Bei einem Treffen mit beiden habe sie das freudige Funkeln in den Augen gesehen und die Energie gespürt, mit der beide ihre pädagogische Arbeit ausführen. Die Wissenschaftlerin ergänzte, dass mit dem Buch „Von allem etwas…“ das pädagogische Prinzip Yad Vashems, die Namen der jüdischen Opfer aufzuspüren und ihnen individuell ihre Geschichte zurück zu geben, diese in Bild, Text, Ton und Film zu sammeln und zu dokumentieren, par excellence umgesetzt worden sei. In ähnlicher Weise äußerte sich auch einige Tage später die nordrhein-westfälische Schulministerin Sylvia Löhrmann bei einem Besuch der Hermann-Leeser-Realschule. Im Beisein von Bürgermeisterin Lisa Stremlau und des Landtagsabgeordneten Werner Jostmeier, bezeichnete sie ihren Besuch als Ausdruck ihrer persönlichen Wertschätzung für die Arbeit der Schülerinnen und Schüler und der Schule und für die Zusammenarbeit mit außerschulischen Partnern wie z.B. dem Stadtarchiv und der International School for Holocaust Studies Yad Vashem. Löhrmann versprach dem gesamten Autorenteam, auch in anderen Schulen empfehlend auf das Buch zu verweisen. Außerdem sagte sie den Schülerinnen und Schülern ihre Unterstützung zu, im nächsten Jahr eine Studienreise nach Israel durchzuführen und Yad Vashem zu besuchen.

Das Buch wird zum unterrichtlichen Einsatz ab Klasse 4 der Primarstufe und darüber hinaus zum Einsatz in den Jahrgangsstufen 5 bis 11 aller Schulformen der Sekundarstufe I und II empfohlen. Einsetzbar ist es etwa in den Fächern Deutsch, Geschichte, Religion und Kunst.