Dieses Modul kann als Ergänzung hinzugezogen werden, nachdem das Basismodul bearbeitet wurde.
Es beinhaltet
- Pädagogische Hinweise
- Wesentliche Informationen zum historischen Kontext der Akteure (insbesondere Heinrich Heinen), visuell aufbereitet (PDF Präsentation)
- Quellentexte, ergänzt durch Angaben zum historischen Kontext
- Aufgabenstellungen, die zentrale Fragen benennen, die mit den Schülerinnen und Schülern erarbeitet werden sollten
Auf die Skizzierung eines Unterrichtsablaufs wird verzichtet.
Dieses Modul ist sowohl für schulische also auch außerschulische Lernanlässe geeignet.
In diesem Modul vertiefen die Lernenden vertiefen die Einsicht, dass die Verschleppung ganzer Gemeinden nicht hinter verschlossenen Türen abgewickelt werden konnte, sondern ein offener und weithin sichtbarer Vorgang war.
Unter der organisatorischen Leitung der Gestapo stellte die Ordnungspolizei (ORPO) die Polizisten, die den Transport überwachen sollten (pro Transport meist ein Polizeioffizier und 10-15 Polizisten), Angestellte der Reichsbahn trugen ihren Teil dazu bei, Europas Schienennetz in den Dienst der Verschleppungen zu stellen, und schließlich kooperierten die jeweiligen Finanzverwaltungen untereinander sowie mit der Gestapo, um das geraubte Vermögen der Deportierten zu beschlagnahmen. Darüber hinaus ist davon auszugehen, dass ehemalige Nachbarn die Deportationen klar wahrnehmen konnten: Sie wurden vor den Augen von Deutschlands Zivilbevölkerung abgewickelt, was bedeutet, dass jeder Einzelne gezwungen war, sich zu positionieren.
Durch den Vergleich der hier vorliegenden Dokumente werden die Schülerinnen und Schüler dazu eingeladen, ihren Blick auf die unterschiedlichen Reaktions- und Verhaltensweisen zu lenken, die im Querschnitt der deutschen Bevölkerung im Bezug auf die Deportationen der deutschen Jüdinnen und Juden vorzufinden waren.
Die einzelnen Akteure können auf der grafischen Abbildung der NS-Gesellschaft (Folie 4) verortet werden. Wie in den pädagogischen Grundlinien (Basismodul) erläutert, werden durch diese erste Verortung die Handelnden zunächst ihrem jeweiligen Handlungskontext zugeordnet. Dabei spielen die Fragen von Profit und Risiko, Ideologie und Wissen um das weitere Schicksal der Verfolgten eine entscheidende Rolle. Erst dann kann durch den Vergleich unterschiedlicher Akteure in vergleichbarem Handlungskontext das Verhalten von Personen beurteilt werden.
Handlungsweisen unterschiedlicher Akteure
Heinrich Heinen, Edith Meyer
Die Quellen erzählen von der Liebesgeschichte des nicht-jüdischen Deutschen Heinrich Heinen und seiner Geliebten Edith Meyer, die sich wie Hilde Sherman auf dem Transport befand, der von Salitter begleitet wurde. Heinen reiste den Deportierten nach, schmuggelte sich selbst in das Ghetto in Riga, fand dort Edith Meyer und begab sich mit ihr auf die hochriskante Flucht zurück nach Deutschland. Weder Heinrich Heinen als auch Edith Meyer überlebten. Heinen wurde 2013 von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem als Gerechter unter den Völkern ausgezeichnet.
Willi und Paula Berntgen
Edith Meyer und Heinrich Heinen wurden von dem deutschen, nicht-jüdischen Ehepaar Berntgen verraten und kam ums Leben – Edith Meyer wurde in Auschwitz ermordet, Heinrich Heinen auf offener Straße von der Polizei in Österreich erschossen. Familie Berntgen stand vor dem Krieg mit Edith Meyer in freundschaftlichem Kontakt. Die Quellen zeigen, dass Edith Meyer vor ihrem Abtransport ihre Aussteuer
Paul und Helena Krebs
Der verzweifelte Brief des nicht-jüdischen Ehepartners Paul Krebs zeigt wiederum seine Entscheidung, zu seiner jüdischen Frau Helene zu stehen, wobei er ganz offensichtlich die rassistische Basis der NS-Ideologie unterschätzt:
„Ich weiß es, meine Frau ist Nichtarierin und hat infolgedessen im heutigen Staat kein Recht; aber sie ist nun einmal meine Frau und trägt ein Kind von mir unter dem Herzen."
Protokoll einer Behördenbesprechung
Abgesehen von den Quellen, die all diese Einzelschicksale bezeugen, wird zudem das Protokoll einer vertraulichen Besprechung zugänglich gemacht, bei der am 20.11.1941 unter Leitung des stellvertretenden Gauleiters mit dem Oberbürgermeister von Münster und Behördenvertretern die organisatorischen Vorbereitungen der Deportationen diskutiert wurden. Hier wird der sorgfältig kalkulierte wirtschaftliche Effekt der Deportationen sichtbar – und damit das Interesse deutscher Bürgerinnen und Bürger, an dem Profit teilzuhaben.
Akteure, die in Hilde Shermans Erinnerungen erwähnt werden
Hilde Shermans Erinnerungen enthalten etliche Hinweise darauf, dass die Verschleppung von über 1 000 Menschen von Düsseldorf nach Riga nicht in einem gesellschaftlichen Vakuum abgewickelt werden konnte. In den vorliegenden Auszügen werden Reaktions- und Verhaltensweisen weiterer Akteure sichtbar: Deutsche bzw. Letten, die das Geschehen mehr oder weniger passiv mitverfolgen oder sich an den Gepäckstücken der völlig überforderten Deportierten bereichern, sowie ein bereits vor dem Einsteigen in Düsseldorf in offener Gewalt agierender Uniformierter.
Akteure, die in Paul Salitters Bericht erwähnt werden
Auch Paul Salitters Bericht enthält Hinweise auf Reaktions- und Verhaltensweisen weiterer Akteure: Erwähnt werden eine Putzfrau, die eine geflüchtete Jüdin diensteifrig zurück zur Sammelstelle führt, ein Stationsvorsteher im besetzten Polen, der durch sein Handeln den reibungslosen Ablauf der Deportationen zu unterminieren scheint, sowie indirekt die Männer des Salitter unterstellten Begleitkommandos, die offensichtlich von ihm wiederholt zu "schärferem Vorgehen" gegenüber den Deportierten ermahnt werden.
Vertiefende Literatur:
- Alfons Dür (2012): Unerhörter Mut. Eine Liebe in der Zeit des Rassenwahns. Wien: Haymon Verlag
- Michael Wildt (2107): Volk, Volksgemeinschaft, AfD. Hamburg: Hamburger Edition
- Der Begriff Aussteuer, auch Mitgift, bezeichnet Haushaltsgegenstände, die eine Braut mit in die Ehe bringt.
- Quelle Erweitertes Modul, Schreiben Paul Krebs 1942
- Ihre Quelle spiegelt die Handlungsweise von Personen wider, die während der NS-Zeit mit der Deportation der jüdischen Deutschen konfrontiert waren. Beschreiben Sie die Entscheidungen und Handlungen der Person(en), die Ihrem Quellentext zu entnehmen sind.
- Diskutieren Sie mögliche Handlungsoptionen und berücksichtigen Sie dabei den jeweiligen Handlungskontext.
- Beurteilen Sie die unterschiedlichen Handlungen der verschiedenen Personen, indem Sie diejenigen miteinander vergleichen, die in vergleichbarem Handlungskontext stehen.
Quelle: Protokoll einer vertraulichen Besprechung zur Vorbereitung der Deportation der Juden aus dem Münsterland
Bei der folgenden Quelle handelt es sich um einen Auszug aus dem vom 20.11.1941 unter Leitung des stellvertretenden Gauleiters mit dem Oberbürgermeister von Münster und Behördenvertretern zur organisatorischen Vorbereitung der Deportationen
Die Besprechung war angesetzt worden, um für den bevorstehenden Abtransport der Juden eine einheitliche Regelung zu erzielen und die in anderen Regierungsbezirken gemachten Erfahrungen zu verwerten. Der Wunsch des Gauleiters war, dass eine einheitliche Regelung unter Leitung des Gaues erfolgen solle.
Als Erster berichtete Oberregierungsrat Heising. Er erklärte, dass es in anderen Städten, insbesondere Düsseldorf, zu Unzuträglichkeiten gekommen sei dadurch, dass auf einmal etwa 500 Wohnungen leer gewesen seien und ein Sturm auf die freien Wohnungen eingesetzt habe, dass ferner Schwierigkeiten bei der Instandsetzung der Wohnungen entstanden seien. Das Reich habe die Kosten nicht tragen können, da z. T. nicht genügend jüdisches Vermögen dagewesen sei, aus dem die Instandsetzungskosten hätten bestritten werden können. Die Hauseigentümer behaupteten, die Juden hätten die Schönheitsreparaturen zu tragen gehabt und dieses nicht getan. Auch seien bezügl. des Verkaufs und der Versteigerung zurückgelassener Sachen unangenehme Situationen entstanden, da man ja auch von einer regelrechten Versteigerung heutzutage nicht mehr reden könne, denn für die meisten Sachen gelten Höchstpreise, die aber regelmässig überboten würden [...]. Auch sei es vorgekommen, dass die Juden noch in letzter Stunde eine grosse Anzahl Sachen verkauft und z. T. sonstwie weggegeben hätten. Die Rechtslage sei die, dass mit Wirkung vom 15. Oktober das gesamte Judenvermögen beschlagnahmt sei. Da die Juden über die Beschlagnahme selbst nicht in Kenntnis gesetzt seien, wäre also diese Beschlagnahme von sehr geringer Bedeutung. Die Finanzverwaltung sei die Beauftragte des Staates für die Verwertung des Judenvermögens. Es müsse für jeden Juden ein Konto geführt werden, auf dem die Erlöse verbucht würden. Und aus diesem Konto würden auch die Schulden bezahlt, da mit der Übernahme des Vermögens auch die Schuldverpflichtungen im Rahmen der vorhandenen Masse auf das Reich übergegangen seien. Für die Verwertung des Vermögens beständen bestimmte Vorschriften. Schmuckstücke und sonstige Wert-, Gold- und Silbersachen würden nach Berlin geschickt und einheitlich dort verwertet. Gemälde und Kunstgegenstände müssten durch den Landesleiter, Reichskulturkammer, Abteilung bildende Künste, abgeschätzt werden, evt. im Einvernehmen mit dem Leiter der Museen. Ebenso sei bezügl. der Bibliotheken - es sei bei einzelnen Juden eine wertvolle jüdische Bibliothek gefunden worden - mit den zuständigen Leuten Fühlung aufzunehmen. Die Juden seien gehalten, eine Vermögensaufstellung anzufertigen. Es habe sich jedoch herausgestellt, dass dies in kaum 20% der Fälle richtig sei. Die Juden hätten ja auch kaum noch ein Interesse daran, sie richtig aufzustellen. In dem Augenblick des Fortganges der Juden aus der Wohnung müssten daher 2 Finanzbeamte hergeschickt werden, die eine genaue Vermögensaufstellung anfertigten und dann die Wohnung versiegelten. Die Verwertung der Sachen habe dann, wie oben aufgeführt, sehr grosse Schwierigkeiten bereitet.
Quelle: Heinrich Heinen
Heinrich Heinen und Edith Meyer lernten sich 1938 in Köln kennen. Obwohl die nationalsozialistischen Rassegesetze die Ehe und jede andere Art der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden verboten, verliebten und verlobten sich die Jüdin Edith und der Katholik Heinrich. Am 11. Dezember 1941 wurde Edith in das Rigaer Ghetto verschleppt. Als Heinrich an Ostern 1942 in Erfahrung brachte, wohin Edith deportiert wurde, fasste er den Entschluss sie aus dem Ghetto zu befreien. Er fuhr nach Riga und machte Edith unter 25.000 Menschen im Ghetto ausfindig. Gemeinsam gelang den beiden die Flucht, die sie über Riga, Königsberg, Solingen-Ohligs, Berlin, Königswinter am Rhein nach Konstanz führte. Hier missglückte ihr erster Versuch, in die Schweiz zu gelangen. Über Bludenz in Vorarlberg gelangten sie nach Feldkirch, wo sie ein weiteres Mal einen Grenzübertritt wagten. In der Nacht vom 22. auf den 23. Juni 1942 wurden die beiden in Feldkirch festgenommen und in die dortige Haftanstalt gebracht. Am 27. August 1942 fand der Prozess gegen Heinrich wegen „Rassenschande“, „Wehrdienstentziehung“ und „Passvergehen“ statt. Er wurde zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Zwei Tage später wurde Edith ins Polizeigefängnis nach Innsbruck gebracht, von wo sie am 9. Oktober nach Auschwitz deportiert wurde. Drei Tage nach seiner Verurteilung wagte Heinrich zusammen mit fünf weiteren Häftlingen einen Ausbruchsversuch, der zunächst erfolgreich war. Heinrich machte sich daraufhin auf die Suche nach Edith, die er in der Haftanstalt allerdings nicht finden konnte, da sie bereits ins Polizeigefängnis in Innsbruck gebracht worden war. Während die anderen Häftlinge schon am Abend von der Schutzpolizei festgenommen wurden, blieben Heinrich und ein weiterer Häftling zunächst unentdeckt. Gegen die beiden wurde eine Großfahndung eingeleitet. Am 2. September wurden sie schließlich von Anton Lindner, dem Kommandanten des Gendarmeriepostens in Hohenems, in Oberklien gestellt. Er tötete Heinrich durch einen Brustschuss. Über das weitere Schicksal Ediths ist nichts bekannt. Es ist davon auszugehen, dass sie gleich nach ihrer Ankunft in Auschwitz in der Gaskammer ermordet wurde. Am 28. Mai 2013 wurde Heinrich Heinen von Yad Vashem posthum als Gerechter unter den Völkern geehrt.
Zur Quelle
Die einzigen bekannten persönlichen Zeugnisse von Heinrich Heinen und Edith Meyer sind die Protokolle der Vernehmungen, die am 21. August 1942 in der Haftanstalt in Feldkirch durchgeführt wurden. Während zu Ediths Leben einiges bekannt ist und auch Fotos erhalten geblieben sind, weiß man über Heinrichs Leben recht wenig. Von Heinrichs Eltern, Anna und Nikolas Heinen, fehlt nach dem Zweiten Weltkrieg jegliche Spur. Alfons Dür, der Autor des Buches „Unerhörter Mut“, vermutet, dass Heinrichs Eltern womöglich am 2. März 1945 bei einem Bombenangriff getötet wurden. Auch Fotos von Heinrich sind nicht erhalten geblieben. Die folgende Quelle zeigt einen Ausschnitt aus dem Vernehmungsprotokoll von Heinrich Heinen in der Haftanstalt Feldkirch:
Vorgeführt erscheint in der Haftanstalt Feldkirch der Deutsche Staatsangehörige Heinrich Nikolaus Heinen, Personalien bekannt und gibt zur Wahrheit ermahnt und mit dem Gegenstand der Vernehmung bekannt gemacht, folgendes an: 'Es war Ende April 1942 als ich meine Braut aus dem Ghetto in Riga holte. Wir fuhren von Riga nach Königsberg mit einem LKW, der O.T.
Von hier aus benutzten wir den Zug bis nach Berlin. Noch am selben Tag fuhren wir weiter nach Ohligs-Solingen. Wir besuchten hier die Familie Berntgen, die unsere Verhältnisse kannten. Sie wußten von meinem Vorhaben, dass ich die Meyer aus dem Ghetto holen wollte und versprachen mir, jegliche Hilfe zu leisten. Als wir nun nach Ohligs kamen, waren sie sehr enttäuscht, denn sie hatten nicht geglaubt, dass mir mein Vorhaben gelingen würde. Sie sagten nun, dass wir sehen sollten, dass wir bald in die Schweiz kämen. Sie sind noch im Besitze von Wäsche und Porzellan, das meiner Braut gehört und uns nicht ausgehändigt wurde. Wir verliessen dann Berntgen und begaben uns zur Familie Krebs. Sie waren erstaunt, dass ich meine Braut aus dem Ghetto geholt hatte. Weil wir nun nicht wussten, was wir machen sollten, baten wir die Familie Krebs, uns Unterkunft zu gewähren. Unsere Bitte wurde anstandslos gewährt. Ich wohnte zirka 3 Tage und meine Braut Edith Sara Meyer 8 Tage bei der Familie Krebs. Angemeldet sind wir nicht worden. Wir waren nicht im Besitze von Lebensmittelmarken. Wir hatten sie auf der Reise alle verbraucht. Das Essen haben wir während unseres Aufenthaltes von der Familie Krebs erhalten. Ich fuhr dann am 4. Tage nach Köln zu meinen Eltern. Von hier fuhr ich wieder nach Ohligs und anschließend weiter nach Berlin, wo ich eine Wohnung suchte. Als ich eine Wohnung gefunden hatte, teilte ich es meiner Braut mit, die dann sofort nach Berlin kam. Wir fuhren nur nach Ohligs, weil wir dachten, dass wir bei der Familie Berntgen Unterkunft erhalten würden, da sie uns wie schon erwähnt, jegliche Hilfe leisten wollten. In Berlin wohnten wir nicht ganz 8 Tage. Hier wohnten wir in Untermiete bei Philipp, Berlin-Schönefeld, Kürasierstr. 20, wo ich auch polizeilich gemeldet war. Meine Braut dagegen war nicht polizeilich gemeldet. Nach 8 Tagen verliessen wir dann Berlin und begaben uns nach Königswinter/Rhein. Hier haben wir in der Pension Stockum gewohnt. Wir wohnten hier zirka 4 Tage und fuhren dann mit der Bahn nach Bludenz/Vorarlberg um von hier aus nach der Schweiz zu gehen. Ich habe die volle Wahrheit gesagt und habe bei meinen Angaben nichts verschwiegen noch hinzuzusetzen.
Quelle: Aus den Erinnerungen der Überlebenden Hilde Sherman
Der folgende Text ist der Auszug einer Transkribierung der Zeitzeugenaussage, die die Überlebende Hilde Sherman (geb. Zander) im Jahr 1994 ablegte.
[…]
Wir kamen an in Düsseldorf, es war schon Dämmerung, wir mussten aussteigen und zu Fuß zum Schlachthof gehen. Und da wurden wir gesammelt. Ich erinnere mich noch, die älteren Menschen konnten schon damals nicht ihre Taschen tragen und haben sie einfach weggeschmissen, auf die Straße. Und damals habe ich gesehen, wie die Leute zugeschaut haben. Sie sind nicht auf die Straße gekommen, sie haben hinter den Fenstern [zu]gesehen. Ich habe die Vorhänge gesehen, wie sie sich bewegt haben. So kann keiner sagen, dass er nicht gewusst hat, was passiert ist. Natürlich haben sie uns gesehen. Wir waren über tausend Menschen! Und dann sind wir in den Schlachthof gekommen. Und da haben wir die ganze Nacht gestanden. Das stand so hoch unter Wasser, das war eine fürchterliche Nacht. Das war der Anfang, da habe ich zum ersten Mal Schläge bekommen und zwar von einem hohen SS-Offizier, der beim Eingang stand. Und da ging eine steile Treppe hinunter in den Schlachthof und das ging nicht schnell genug. Und dann hat er mich gestoßen. Und dann hat er geschrien: "Auf was wartest du noch? Auf die Straßenbahn? Die wird für dich nie wieder fahren." […]
Plötzlich blieb nachts der Zug stehen, und wir wussten überhaupt nicht, wo wir waren. Im Morgengrauen hat man ein Schild gesehen, Schirotawa. „Wo ist Schirotawa, was ist Schirotawa?“ Es war eine bittere Kälte. ... Das sind ungefähr ... 20, 25 Kilometer von Schirotawa ins Ghetto. Und dann haben die Leute ihre Taschen von sich geworfen. Und die Letten haben nicht nur zugeguckt, sie haben direkt gestohlen. Sobald der [Menschen-]Zug vorbei war, haben sie alles aufgeklaubt, was auf dem Boden lag. Dann ging es durch einen Vorort ... [u]nd dann rechter Hand einen kleinen Hügel aufwärts. Und dann war [da] ein riesengroßes Tor, ein Eisentor, und das ging auf, und wir waren im Ghetto.
[…]
Quelle: Yad Vashem Archive 0.3/7337
Quelle: Paul und Helene Krebs
Helene Krebs war Ediths Cousine zweiten Grades. Sie entstammte einer jüdischen Familie und heiratete 1933 den nichtjüdischen Deutschen Paul Krebs. Nach ihrer Flucht hielten sich Edith und Heinrich mehrere Tage in der Wohnung von Paul und Helene Krebs in Solingen-Ohligs auf.
Willi und Paula Berntgen (beide nicht jüdisch) verkehrten freundschaftlich mit Paul und Helene Krebs. Auch Edith kannte die Berntgens und besuchte diese vor ihrer Deportation gelegentlich mit ihrem Verlobten Heinrich. Sowohl Edith und Heinrich, als auch Paul und Helene Krebs wurden vom Ehepaar Berntgen bei der Gestapo denunziert.
Aufgrund der von Paula Berntgen erstatteten Anzeige nahm die Gestapo Ermittlungen gegen Helene Krebs wegen Fluchthilfe auf. Am 17. August 1942 wurden Paul und Helene Krebs verhaftet und in das Wuppertaler Polizeigefängnis gebracht. Während Paul Krebs bereits zwei Tage später wieder freigelassen wurde, blieb seine Frau weiterhin in Haft. Ende September 1942 stellte der leitende Polizeiarzt fest, dass Helene Krebs im dritten oder vierten Monat schwanger war. Anfang November ordnete die Stapo-Leitzentrale Düsseldorf die Überweisung Helene Krebs in ein Konzentrationslager an. Am 7.12.1942 wurde die hochschwangere Helene Krebs nach Auschwitz deportiert, wo sie am 8.1.1943 starb.
Paul Krebs richtete sich am 3.12.1942 mit einem Bittschreiben an die Geheime Staatspolizei Düsseldorf:
Ich trete heute an die dortige Stelle mit einer Bitte für meine Ehefrau heran in der Hoffnung daß dieser Bitte stattgegeben wird, wenn man die nachstehende Begründung auch nur in etwa berücksichtigt. Ich bin in der Bergischen Metallwarenfabrik Deppmeyer und Co. Solingen Saarstr. 10-13 und zwar Spezialfachmann als Werkzeugmacher und Vorrichtungsbauer. Ich glaube, von mir sagen zu dürfen, daß ich auf diesem Gebiet in der Firma der einzige bin, der als Spezialfachmann während des ganzen Krieges bei den kriegswichtigen Aufträgen meiner Firma meine Pflicht bis zum Letzten getan habe und nicht nur die vorgeschriebenen Stunden, sondern weit über 80 Stunden in der Woche gearbeitet habe. Ich bin Soldat des Weltkrieges und bei Verdun verwundet worden. Ich habe jetzt auch das Kriegsverdienstkreuz erhalten. Politisch habe ich mich früher nie betätigt und gehöre zu den Elementen, die bestimmt staatserhaltend sind, und mir nimmt man jetzt meine Frau. Weswegen? Wegen einer Unvorsichtigkeit, die ihr aus rein menschlichen Motiven unterlaufen ist. Ich weiß es, meine Frau ist Nichtarierin und hat infolgedessen im heutigen Staat kein Recht; aber sie ist nun einmal meine Frau und trägt ein Kind von mir unter dem Herzen. Seit Monaten ist sie nun verhaftet, weil sie einem jungen Mädchen, Edith Meyer, die Jüdin ist, ein Nachtquartier gewährt hat. Für mich ist das Leben nicht mehr lebenswert, wenn man mein Familienleben vernichtet. Die Familie meiner Frau lebt seit über 400 Jahren im Bergischen Land und auch die Geschwister sind alle mit Ariern verheiratet. In der Familie ist wirklich keine jüdische Gesinnung und keine jüdische Einstellung. Jetzt soll meine Frau nach Polen verschickt werden, und ich weiß nicht, wohin sie kommen soll und was aus ihr wird. Meine Bitte geht nun dahin, mich zu bewahren vor diesem Schicksalsschlag und zu berücksichtigen, daß ein deutscher Mann, der im Weltkrieg seine Pflicht getan hat und der jetzt jeden Tag, wie bei der Firma nachgeprüft werden kann, bis zum Letzten seine Pflicht für sein Vaterland tut und der jetzt ein Kind erwartet, auch eine Ehre im Leib hat und schließlich zugrundegeht und sein eigenes Leben vernichten muß, wenn er sieht, daß das Leben für ihn wirklich nichts mehr bedeutet. Ich bin bereit, jede Schuld auf mich zu nehmen, aber ich kann es nicht ertragen, daß das Menschenkind, mit dem man jetzt jahrelang verheiratet ist, in ein ungewisses Unglück hineingeführt wird, ohne daß man ihm helfen kann. Das kann auch, wenn es einen Herrgott gibt, unser Herrgott nicht gutheißen, und der Führer spricht stets von einem solchen Herrgott. Ich hoffe, daß das, was ich der dortigen Stelle unterbreitet habe, Berücksichtigung finden wird. Zum Schluß möchte ich bemerken, daß meine Frau ein Anrecht darauf besitzt, nicht nur Gnade, sondern auch Recht zu finden, denn ihr eigener Vater hat im Weltkrieg als deutscher Soldat sein Leben für Deutschland hingegeben. Ich bitte daher, mir mein Frau wiederzugeben.
Heil Hitler
Paul Krebs
Quelle: Auszüge aus dem Bericht von Paul Salitter
Von den Deportationsberichten und den Kriegstagebüchern sind nur wenige erhalten geblieben. Gegen Kriegsende 1945 wurde das Archiv der Ordnungspolizei in Prag, wo diese Dokumente überwiegend aufbewahrt wurden, bewusst vernichtet. Außerdem ist das Hauptamt der Ordnungspolizei in Berlin während eines alliierten Luftangriffes zerbombt worden. Es ist davon auszugehen, dass die meisten Transporte lediglich mit kurzen Ereignismeldungen in den entsprechenenden Kriegstagebüchern erwähnt worden sind. Detaillierte Berichte, wie von Paul Salitter und Albert Westermann, wurden wohl vor allem dann geschrieben, wenn sich die Transportführer bei ihren Vorgesetzten beschweren wollten, Verbesserungsvorschläge hatten oder sie sich hervorheben wollten.
Die Ordnungspolizei des NS-Staates bestand aus etwa 2,8 Millionen Männern. Der Historiker Christoph Spieker konnte bislang 47 Fälle dokumentieren, in denen Polizisten „Rettungswiderstand“ leisteten. Prozentual liegt damit die Zahl derer, die sich widersetzten und Juden halfen, im Promillebereich.
Den folgenden Bericht verfasste Paul Salitter nach seiner Rückkehr von Riga.
Der für den 11.12.1941 vorgesehene Judentransport umfasste 1.007 Juden. […] Der Transport setzte sich aus Juden beiderlei Geschlechts und verschiedenen Alters, vom Säugling bis zum Alter von 65 Jahren, zusammen. […]
Auf dem Weg zum Schlachthof zur Verladerampe [zentrale Sammelstelle] […] hatte sich eine ältere Jüdin unbemerkt von der Verladerampe, es regnete und war sehr dunkel, entfernt, sich in ein nahe liegendes Haus geflüchtet, entkleidet und auf ein Klosett gesetzt. Eine Putzfrau hatte sie jedoch bemerkt, so dass auch sie dem Transport wieder zugeführt werden konnte.
[…]
Um 11.10 Uhr [am 12. Dezember] wurde Konitz erreicht. [Salitter wollte den Begleitwagen umrangieren, sodass sich dieser in der Mitte des Zuges befinden würde.] […] Anfänglich wurde mir dies zugesagt, dann erklärte mir der Stationsvorsteher, dass [dies] nicht durchführbar sei […], dass er den Zug sofort wieder abfahren lassen müsse […]. Das Verhalten des Stationsvorstehers erschien mir unverständlich, weshalb ich ihn in energischer Weise zur Rede stellte und mich beschwerdeführend an die zuständige Aufsichtsstelle wenden wollte. Er erklärte mir darauf, dass diese Stelle für mich nicht zu erreichen sei, er seine Anweisungen habe und den Zug sofort abfahren lassen müsse, weil 2 Gegenzüge zu erwarten seien.
Er stellte sogar das Ansinnen an mich, einen Wagen in der Mitte des Zuges von Juden zu räumen, ihn mit meinem Kdo. [Kommando] zu belegen und die Juden im Begleitwagen 2. Klasse unterzubringen. […] Ich hatte den Eindruck, als ob es sich bei ihm um einen von denjenigen Volksgenossen handelt, die immer noch von den „armen Juden“ zu sprechen pflegen und denen der Begriff „Jude“ völlig fremd ist.
[…]
Die gestellten Männer des Begleitkommandos haben zu nennenswerten Klagen keinen Anlass gegeben. Abgesehen davon, dass ich einzelne von ihnen zu schärferem Vorgehen gegen Juden, die meine erlassenen Verbote zu übertreten glaubten [übertreten zu können glaubten], anhalten musste, haben sich alle sehr gut geführt und ihren Dienst einwandfrei versehen. Krankmeldungen oder Zwischenfälle sind nicht vorgekommen.Gez.: Salitter
Hauptmann der Schutzpolizei
Quelle: Yad Vashem Archive 0.2/1145
Quelle: Willi und Paula Berntgen
Willi und Paula Berntgen (beide nicht jüdisch) verkehrten freundschaftlich mit Paul Krebs und seiner jüdischen Ehefrau Helene Krebs, die Heinrich und Edith auf ihrer Flucht mehrere Tage Unterschlupf gewährten. Auch Edith kannte die Berntgens und besuchte diese vor ihrer Deportation gelegentlich mit ihrem Verlobten Heinrich.
Sowohl Edith und Heinrich, als auch Paul und Helene Krebs wurden vom Ehepaar Berntgen bei der Gestapo denunziert. Bis heute sind die Gründe dafür unklar. Womöglich spielte Ediths Aussteuer
1948 wurde ein Ermittlungsverfahren gegen Paula und Willi Berntgen wegen Denunziation eingeleitet, welches jedoch wieder eingestellt wurde. Die folgende Quelle beinhaltet einen Auszug aus der Aussage Willi Berntgens vor der Stapo Solingen am 9. September 1942
Ich war ganz erstaunt, daß ich Heinen u. die Meyer plötzlich in meiner Wohnung antraf. Heinen erzählte mit zuerst, daß er die Meyer auf ordnungsmäßigem Wege aus dem Ghetto in Riga geholt hätte. Später erfuhr ich aber, daß die Sache doch nicht in Ordnung war u. er die Jüdin auf Umwegen aus dem Ghetto herausgeholt hatte. Heinen gab an, daß er zuerst dort verhaftet worden sei, aber auf Vorzeigen seines Wehrpasses habe ihn die lettische SS wieder auf freien Fuß gesetzt. Einige Tage später ist es ihm aber doch gelungen in das Ghetto hereinzukommen, wo er die Meyer getroffen u. die Flucht mit ihr zusammen geplant hat. Angeblich ist er des Abends mit Meyer unter den Stacheldraht her gekrochen u. so ins Freie gelangt. Sie haben sich dann bei einer lettischen Bäuerin aufgehalten, sind dann ein Stück zu Fuß gegangen u. anschließend mit einem Wehrmachtsauto oder Kraftwagen der OT
in der Nacht über die Grenze gefahren. Auf Befragen des Heinen, was er jetzt vorhabe, antwortete er, daß die Edith vorläufig bei Krebs bleiben solle u. er wieder sofort nach Berlin fahren würde. Daraufhin habe ich meine Frau in ein anderes Zimmer gerufen u. zu ihr gesagt, daß sie dafür sorgen solle, daß bei meiner Rückkehr die beiden nicht mehr im Hause wären. Ich wollte mit der Angelegenheit nichts zu tun haben. Auf mein Zureden u. aus dem eigenem Entschluß hat meine Frau 8 Tage darauf die Angelegenheit der Polizei gemeldet.
- Quelle: Geschichte original – Am Beispiel der Stadt Münster (Reihe), Heft 5, Blatt 8, Dokument 22, Aschendorff, Münster 1980.
- Quelle: LAV NRW R, RW 58 Nr. 52490, zitiert nach Alfons Dür. Unerhörter Mut, Innsbruck-Wien 2013, S. 66f..
- Abkürzung für Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe, die für die bauliche Realisierung von Schutz- und Rüstungsprojekten in Deutschland und den besetzten Gebieten zuständig war.
- Quelle: RW 58 Nr. 52490, Bl. 75, zitiert nach Alfons Dür. Unerhörter Mut, Innsbruck-Wien 2013, S. 183-186.
- Der Begriff Aussteuer, auch Mitgift, bezeichnet Haushaltsgegenstände, die eine Braut mit in die Ehe bringt.
- Quelle: LAV NRW R, RW 58 Nr. 52490, zitiert nach Alfons Dür. Unerhörter Mut, Innsbruck-Wien 2013, S. 64f..
- Abkürzung für Organisation Todt, einer paramilitärischen Bautruppe, die für die bauliche Realisierung von Schutz- und Rüstungsprojekten in Deutschland und den besetzten Gebieten zuständig war.