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Die Tochter, die wir uns immer gewünscht haben: Die Geschichte von Marta

Dieses Buch wird aus der Sicht des jüdischen Mädchens Marta, die den Holocaust überlebte und heute mit ihrer Familie in Israel lebt, erzählt. In einer Welt von Zerstörung, Angst und Terror kann Marta dank der Hilfe einer christlichen Familie in Warschau der Deportation entgehen. Ihre Mutter, die das achtjährige Mädchen mit einer falschen Identität zu der Familie schickt, als auch ihr Vater überleben den Holocaust nicht. Die christliche Familie und Martas Kindermädchen wurden später von Yad Vashem als „Gerechte unter den Nationen“ anerkannt.

Dieses Unterrichtsvorschlag für die Bearbeitung der Lektüre unter dem Schwerpunkt: Identitätsbildung vor, während und nach dem Holocaust.

Mehr Material zu diesem Buch finden Sie hier:

  1. Entwurf einer Unterrichtseinheit von Barbara Kirchner, Kursteilnehmerin aus einem ISHS Seminar 2009.
  2. Briefwechsel zwischen Marta Goren und einer Schulklass] aus der Schweiz.

Zeitlicher Rahmen und Zielgruppe:

Dieser Unterrichtsvorschlag kann innerhalb von 90-120 Minuten mit jungen Erwachsenen (auch geeignet für: Lernende mit migrantischem Hintergrund) durchgeführt werden. Anschließend empfehlen wir die Lektüre des gesamten Textes.
Der Workshop ist nur eingeschränkt für jüngere Leser (7. bis 9. Jahrgangsstufe) zu empfehlen.

Ablauf

1. Einstieg
Reflektionen zum Begriff „Identität“: Notieren Sie 3 Dinge, die Ihnen wichtig sind und von denen Sie möchten, dass die Anderen sie über Sie wissen.
Auswertung: Diskussion über die ausgewählten Dinge, sowie über mögliche Selbst- und Fremdzuschreibungen

2. Gemeinsame Lektüre: Marta Goren stellt sich vor
Unterrichtsgespräch: Was erzählt uns Marta? Was sind die Dinge, die wir über sie wissen sollen?
(Als identitätsbildende Themen für Marta sollten genannt werden: Ihre Familie, das Land Israel, Lernen)

3. Gruppenarbeit
Die Lernenden werden in vier Arbeitsgruppen eingeteilt und beschäftigen sich mit je einem der folgenden Textausschnitte:

  1. Martas Leben vor dem Holocaust
  2. Bruch mit dem bis dahin geführten Leben (Sowjet- und Nazibesatzung, Martas sechster Geburtstag als letzte glückliche Erinnerung)
  3. Trennung von der Mutter (Überleben im Versteck und mit falscher Identität)
  4. Nachkriegszeit (Konfrontation mit dem Verlust der Eltern, erneute Identitätsfindung, Leben in Israel)

Die Teilnehmer jeder Arbeitsgruppe fertigen gemeinsam ein Poster an, das mit der Leitfrage „Wer ist Marta?“ überschrieben ist. Sie stellen die Ergebnisse ihrer Lektüre schematisch/grafisch dar, wobei sich ihre Arbeit auf die Frage der Identität der Protagonistin Marta konzentriert (und nicht nur auf eine Wiedergabe des Handlungsablaufs).

Als wissenschaftliches Hintergrundmaterial für die Diskussion wird eine kurze Darstellung des „Stufenmodells der psychosozialen Entwicklung“ von Erikson beigefügt, das die Entwicklungsstufen eines Kindes unter normalen, förderlichen Bedingungen beschreibt (fakultativ).

4. Vorstellung der Ergebnisse im Plenum
Durch die sukzessive Vorstellung der Arbeitsergebnisse der Gruppen 1 bis 4 entsteht ein Gesamteindruck von den Themen, Konstellationen und Dimensionen des Buches. Der Vorstellung sollte eine moderierte Diskussion folgen.

5. Gemeinsame Lektüre des Schlusskapitels
Moderierte Diskussion: Fragen persönlicher und kollektiver Erinnerungsarbeit

Marta Goren stellt sich vor

Statt mit der Vergangenheit anzufangen...

Statt mit der Vergangenheit anzufan-gen, beginne ich meine Geschichte in der Gegenwart. Heute lebe ich mit meinem Mann Amos in der israe-lischen Stadt Rechovot. Unsere Kinder sind schon erwachsen und wir sind stolze Großeltern. Motti, unser jüng-ster Sohn, lebt mit seiner Familie ganz in unserer Nähe und unsere Enkeltöch-ter kommen uns oft nach der Schule besuchen. Unser Sohn Shai und seine Familie sind gerade in Singapur auf einem Auslandsaufenthalt, zu dem sie von der israelischen Regierung entsen-det wurden. Netta, unsere älteste Tochter, lebt mit ihrer Familie in dem Jerusalemer Stadtviertel Sanhedria. Wir haben alle zusammen die Hochzeit ihrer Tochter Tamari gefeiert, unserem ersten Enkelkind. Und vor einem Jahr kam Ruth zur Welt, ein lebhaftes kleines Mädchen – unser erstes Groß-enkelkind.

Ich liebe meine Familie und meine Freunde sehr und ich denke, ich bin eine gute Großmutter. Es macht mir Spaß, meine Enkelkinder zu unter-halten und mit ihnen zu spielen. Und mit meiner Familie kreuz und quer durch Israel zu reisen, ist mir ein großes Vergnügen.

Was gibt es noch zu sagen? Ich lerne sehr gern und schreibe gerade eine Doktorarbeit über Tschortkov in Polen, den Ort, wo ich geboren wurde.

Gruppe 1: Martas Leben vor dem Holocaust

Es war einmal …

Es war einmal eine jüdische Gemeinde in der ostpolnischen Stadt Tschortkov. Tschortkov ist eine kleine Stadt, die am Fluss Seret liegt. Die Juden von Tschortkov lebten dort seit Hunderten von Jahren in Nachbarschaft mit Ukrainern und Polen. Die Juden sprachen jiddisch und polnisch, viele auch hebräisch. Einige von ihnen waren Zionisten, die auf die Erlaubnis warteten, nach Eretz Israel einzuwandern. Andere hingegen warteten auf die Ankunft des Messias und beteten, er möge bald kommen und sie nach Eretz Israel bringen. Und dann gab es wieder andere Juden, die einfach weiter in Tschortkov leben wollten.

Wir wohnten in der Rinekstraße 3. Großvater Itzhak und Großmutter Monja Sternschus wohnten in einer Wohnung im dritten Stock mit ihrer Tochter Lunia. Im Erdgeschoss lag Großvaters Laden. Die Familie Winter lebte in einer großen Wohnung im zweiten Stock: Netty, meine Mutter, war die Tochter von Großmutter und Großvater, Israel, mein Vater, ein Rechtsanwalt, und die kleine Tochter, Marta, das bin ich. An meinen Vater kann ich mich leider kaum erinnern. Sie haben ihn uns weggenommen, als ich sechs Jahre alt war. Wenn ich fragte „Wo ist Vater?“, antwortete meine Mutter: „Er ist auf Reisen gegangen, jenseits der Berge.“ Bevor ich diese traurigen Erinnerungen mit euch teile, möchte ich euch einige meiner glücklichen Erinnerungen erzählen.

Glückliche Erinnerungen

Ich kann mich erinnern, wie ich mit meinem Vater Ausflüge in den nahe gelegenen Schwarzen Wald machte. Es gibt sogar ein Bild von mir als kleines Mädchen im Wald. Ich kann mich auch erinnern, dass Vater mich einmal in das Gymnasium in der Stadt mitnahm. Ich war so aufgeregt, als ich die Schüler sah, und fragte: „Vater, werde ich auch auf dem Gymnasium lernen?“ Und mein Vater antwortete zuversichtlich: „Selbstverständlich!“ Vater war Zionist und Mitbegründer der Schule. Jeden Samstagmorgen gingen wir zur Großen Synagoge. Vater betete und ich spielte draußen mit meiner Freundin Duscha. Wenn der Gottesdienst vorbei war, kamen mein Vater und die anderen nach draußen auf den Platz vor der Synagoge. Ich rannte zu ihm; auch meine Tanten kamen hinzu und setzten feuchte Küsse auf meine Wangen. Während wir von der Synagoge nach Hause zum Schabbatessen bei meinen Großeltern gingen, wischte ich mir die nassen Küsse von den Wangen.

Ich liebte es, Großvater und Großmutter zu besuchen. Großmutter war eine großartige Köchin und der Duft ihrer frischen, eigens für den Schabbat gebackenen Challot-Brote zog von ihrem Küchenfenster bis zu unserer Wohnung. Großmutter buk auch Hefeküchlein, gefüllt mit Rosinen und Zimt, deren wundervollen Geschmack ich bis heute auf der Zunge habe. Meine Tante Lunia war eigentlich eher eine große Schwester. Obwohl sie elf Jahre älter war, nahm sie mich mit, wenn sie ihre Freundinnen besuchte. An kalten Wintertagen ging sie mit mir Schlitten fahren und half mir, die schönsten Schneemänner der Welt zu bauen. Meine Mutter war sehr schön und sehr klug. Bevor sie Vater heiratete, hatte sie Pharmazie in Wien studiert. Als sie von Österreich zurückkam, arbeitete sie in der Apotheke auf der Hauptstraße von Tschortkov. Das war ganz in der Nähe von unserer Wohnung. Jeden Tag in der Mittagspause und gegen Abend, wenn ich das Klappern hoher Absätze im Treppenhaus hörte, wusste ich, dass Mutter von der Arbeit zurückkam.

Einmal, als ich krank im Bett lag und Mutter bei mir zuhause geblieben war, hörte ich wundervolle Melodien. Ich ging auf den Balkon und sah, wie unten im Hof vier Zigeuner in bunten Kleidern ein langsames, wehmütiges Volkslied sangen. Ich war verzaubert. Ich rief meine Mutter und sie kam. Sie legte ihre Hand auf meine Schulter und wir standen beide still da und hörten zu. Nachdem die Sänger ihr Lied beendet hatten, klatschte ich in die Hände. Mutter steckte mir ein paar Münzen zu und flüsterte: „Martusch, sie möchten Geld!“ Voller Freude warf ich ihnen Münzen hinunter. Der Jüngste sammelte sie in einen Hut und dann verließen die Sänger winkend unseren Hof.

Gruppe 2: Bruch mit dem bis dahin geführten Leben

Alles wird anders

Als ich vier Jahre alt war, begann der Zweite Weltkrieg. Deutschland eroberte den größten Teil Polens, Russland besetzte den Rest. Unsere Stadt, Tschortkov, wurde von Einheiten der Roten Armee der ehemaligen Sowjetunion besetzt. Ich weiß noch, dass wir, Großvater, Großmutter und Lunia, Vater, Mutter und ich unsere Wohnung an der Rinekstraße damals verließen. Ich erinnere mich, dass ich aufhörte, mit Vater in die Synagoge zu gehen, weil nach den Befehlen der neuen Regierung die Synagogen offiziell geschlossen wurden und die Juden nicht mehr öffentlich beten durften.

Meine Eltern und ich zogen in eine kleine Zweizimmer-Wohnung, in die unsere großen Möbelstücke nur mit Mühe hineinpassten. Das Gebäude stand in einem großen Hof. Dort sammelte ich Schnecken und süße rote Erdbeeren. Vergeblich versuchte ich, Vögel zu fangen – sie flogen alle davon.

So vergingen zwei Jahre. Im Frühling 1941, an einem Samstagmorgen – die Sonne schien und wärmte unser Zimmer – weckte mich Mutter mit einem Kuss. Ich schlug meine Augen auf und sah Vater und Mutter in meinem Zimmer stehen.
„Guten Morgen, Martusch,“ sagte Mutter und Vater fügte hinzu, „Masal tov! Weißt du, was heute ist? Heute wirst du sechs Jahre alt, und wir machen eine große Feier für dich!“ „Wirklich?“, fragte ich überrascht. „Ein Geburtstagsfest?“ Meine Eltern lächelten und nickten mit dem Kopf. Mutter zog mir ein neues, rosafarbenes Kleid an, auf das blaue Blumen aufgestickt waren. Sie kämmte mir sanft die Haare und flocht mir Bänder in die zwei kleinen Zöpfe. Dann war ich fertig. Ich war sehr aufgeregt und lief in den Hof, um die Gäste zu begrüßen. Großvater, Großmutter und Tante Lunia kamen als erste, danach trafen Freunde meiner Eltern ein, einige Paare mit ihren Kindern. Meine beste Freundin Duscha kam auch.

Frühlingshafter Blütenduft erfüllte den Hof, die Haustür ging auf und meine Mutter, so schön wie noch nie, erschien mit einem riesigen Kuchen auf einem breiten Tablett. Alle klatschten. Mutter, Vater und ich gingen zum Tisch, Mutter setzte das Tablett auf der Tischdecke ab und gab mir das Messer in die Hand. Sie führte meine Hand, und gemeinsam schnitten wir den Kuchen in Stücke und verteilten sie an unsere Gäste. Nachdem alle den köstlichen Kuchen gelobt, mir alles Gute für mein Leben und meinen Eltern viel Erfolg für die Zukunft und Freude an den Kindern gewünscht hatten, wendeten sich die Erwachsenen ihren Gesprächen zu und wir Kinder spielten Verstecken. (...)

Die Geburtstagsfeier ist meine letzte glückliche Erinnerung.

Einen Monat später griff die deutsche Armee an und besetzte die Stadt. Plötzlich begann die Verwüstung, und überall war nur noch Angst. Angst, das Haus zu verlassen. Angst, dass ein deutscher Soldat in deiner Nähe vorbeigehen würde. Angst, dass etwas Schlimmes passieren würde. Deutsche Soldaten, begleitet von ortsansässigen Ukrainern, verhafteten Juden, schlugen sie, plünderten ihren Besitz oder – je nach Laune – töteten sie.

Eines Tages musste mein Vater sich bei den Deutschen melden. Zwei Stunden später kam er völlig aufgelöst zurück. „Sie wollen, dass ich etwas für sie tue, was ich nicht tun kann,“ sagte er zu Mutter und Großvater. „Und was wirst du tun?“
„Davonlaufen kann ich nicht, also werde ich morgen hingehen und ‘Nein’ sagen!“

Am nächsten Tag verließ Vater das Haus. Er kam nie wieder zurück. Auf die Frage, wo Vater sei, antwortete meine Mutter, er sei auf Reisen gegangen, jenseits der Berge.
Während der Stunden, in denen Mutter in der Apotheke arbeitete, blieb ich bei Großvater und Großmutter. Abends ging ich mit Mutter nach Hause. Die Deutschen zogen Großvater und Tante Lunia zur Zwangsarbeit heran, das heißt, dass sie arbeiteten, aber für ihre Arbeit nicht bezahlt wurden. (...)

Und dann kam der Erlass, dass alle Juden der Stadt angewiesen wurden, ihre Wohnungen zu verlassen und in ein Ghetto zu ziehen. Das Ghetto war ein kleines Gebiet am Stadtrand, dessen Bewohner evakuiert worden waren. Alle Juden der Stadt wurden gezwungen, hier zu leben. Das Ghetto war von Stacheldraht umzäunt, und die Wachposten am Ghettotor erlaubten nur jenen Juden, die eine Genehmigung hatten, das Ghetto zu verlassen. Das Ghetto bot bei Weitem nicht allen Einwohnern ausreichend Platz und so mussten sich jeweils mehrere Familien in einer Wohnung zusammendrängen. Mutter packte ein paar Kleider und Geschirr zusammen und wir bezogen gemeinsam mit Großvater, Großmutter und Lunia ein Zimmer in einer Wohnung im Ghetto. Ich hörte, wie Mutter und Großmutter über einen Juden redeten, den die Deutschen gefasst hatten, und über eine Familie, die abgeholt worden war, aber ich verstand nicht, wohin sie gebracht worden waren.

Mutter hatte eine Genehmigung, mit der sie das Ghetto verlassen konnte. Der Besitzer der Apotheke hatte den deutschen Offizier überzeugt, dass Mutter unentbehrlich war. So erhielt sie eine Sondererlaubnis, das Ghetto jeden Morgen zu verlassen, den ganzen Tag über in der Apotheke zu arbeiten und abends ins Ghetto zurückzukehren. Jeden Morgen, wenn Großvater und Lunia zur Arbeit gegangen waren, zog Mutter sich an, schminkte sich und schlüpfte in die Schuhe mit den hohen Absätzen, gab mir einen Kuss und sagte: „Martusch, ich gehe zur Arbeit. Du musst hier bis zum Abend bei Großmutter bleiben. Ich weiß, dass dir langweilig ist, aber du darfst nicht rausgehen. Und bitte mach es der Großmutter nicht noch schwerer.“

Draußen war es gefährlich, aber im Zimmer war es schrecklich langweilig und eng. Ich hatte keinerlei Spielzeug. (...)

Was ist mit Duscha geschehen?

(...) Einmal, als Großmutter nicht Acht gab, beschloss ich, auf die Straße zu gehen und meine Freundin Duscha zu suchen. Leise schloss ich die Tür hinter mir zu, schlich auf Zehenspitzen die Treppen hinunter und ging nach draußen. Als ich müde wurde, blieb ich neben einem Trinkwasserbrunnen stehen. Plötzlich hörte ich die schweren Tritte von Stiefeln und das Knurren eines Hundes.

Ein deutscher Soldat und ein gigantischer schwarzer Hund kamen auf mich zu und ich stand da wie festgefroren. Ich hörte Mutters Stimme, wie sie mich anwies: „Wenn du einen deutschen Soldaten siehst, lauf weg und versteck dich in einem Treppenhaus!“ Ich war so gelähmt vor Schreck, dass ich mich nicht bewegen konnte. Der Soldat und der Hund gingen an mir vorüber und als sie in weiter Ferne waren, rannte ich nach Hause. Großmutter empfing mich wütend und in heller Aufregung. Nicht nur, dass ich das Haus verlassen hatte – ich war auch noch auf einen deutschen Soldaten mit Hund getroffen. Das war genau das, was sie so befürchtet hatte. Abends, als Mutter nach-hause kam und Großmutter ihr erzählt hatte, was passiert war, war auch sie böse auf mich. „Wohin wolltest du?“ „Ich bin Duscha suchen gegangen,“ antwortete ich unschuldig. „Ich wollte mit ihr spielen.“ „Verstehst du nicht, dass sie fort ist? Verstehst du nicht, dass sie nicht mehr da ist?“

Ich stand stumm da und fragte mich: „Wie kann es sein, dass Duscha, meine beste Freundin, fortgegangen ist, ohne sich von mir zu verabschieden?“

Zwei Tage später, als Mutter mich am Abend in der kleinen Metallwanne mitten im Zimmer badete und mein Haar mit Shampoo einseifte, fragte ich: „Mutter, wohin ist Duscha gegangen?“ „Kopf nach hinten!“, sagte Mutter, nahm den Kessel vom Tisch und spülte mir die Seife aus dem Haar. Ich hatte meine Augen fest geschlossen, das Wasser lief mir über den Kopf und das Gesicht, da sagte meine Mutter langsam und ruhig: „Die Deutschen haben sie abgeholt. Sie sind tot.“

Von da an wagte ich es nicht, das Haus zu verlassen. Ich freundete mich mit dem Fotografen von nebenan an. Er war groß, dünn und balancierte seine Kamera auf einem Stativ. Wenn er ein Foto machte, bedeckte er seinen Kopf mit einem Stück schwarzen Stoffs, das mit der Kamera verbunden war, und gab mit seiner Hand das Signal „Lächeln“. Es machte mir Spaß, mich vor der Kamera zu bewegen. Ich lächelte, tanzte und machte Knickse. Mal war ich eine Prinzessin, mal ein Frosch, ein anderes Mal eine böse Hexe und dann ein perfekter Prinz und der nette Fotograf machte alles mit. Plötzlich verschwand auch er.

Gruppe 3: Trennung von der Mutter

Wir müssen uns trennen

Eines Nachts, nachdem wir mit Lernen fertig waren und uns Schlafen gelegt hatten, streichelte Mutter mein Haar und flüsterte: „Martusch, wir müssen uns trennen.“

„Was?“ Ich sprang auf, als ob mich eine Schlange gebissen hätte und stand auf der Matratze. Mutter richtete sich auf und nahm sanft meine Hände. Ich setzte mich zu ihr. „Die Lage wird von Tag zu Tag schlimmer,“ sagte Mutter, während sie meine Hand streichelte. „Es sind schon kaum mehr Juden übrig geblieben im Ghetto. Die Deutschen haben Tschortkov für ‘judenrein’ erklärt und jeder Jude, den sie erwischen, wird zum Tode verurteilt. Bald werden sie mir verbieten, in der Apotheke zu arbeiten.“ „Wir können uns zusammen im Keller verstecken.“ „Das ist gefährlich. Jemand muss uns Essen und Wasser bringen und ich habe Angst, dass sie uns verraten. Martusch, ich habe nicht vor, dich jemals zu verlassen; du wirst als Erste reisen und ich komme nach.“ „Wohin?“ „Nach Warschau.“ „Warschau ist sehr weit weg, das liegt auf der anderen Seite von Polen,“ brachte ich mein neues Wissen ein.

„Bravo! Du hast gut gelernt,“ sagte Mutter aufmunternd. „Warschau ist wirklich weit weg und du wirst mit dem Zug dorthin fahren.“ „Allein?“, fragte ich voller Panik.

„Nein. Du wirst mit Lydka fahren. Hör mir zu. Ich habe gute Freunde in Warschau, eine Familie namens Schultz. Sie haben einen großen Bauernhof in Tschortkov und bevor Vater auf Reisen gegangen ist, hat er für sie die Buchhaltung erledigt. Anna und Joseph Schultz haben mir geschrieben, wir könnten zu ihnen nach Warschau kommen. Weil das gefährlich ist, wirst du vorausfahren und ich komme nach.“ Mutter fuhr fort: „Heute in einer Woche wird Lydka, die Tochter von Anna und Joseph Schultz, nach Tschortkov kommen und dich abholen. In Warschau wirst du den blauen Himmel sehen und Vögel, du wirst mit anderen Kindern spielen und in die Schule gehen.“ „Eine Mutter, die ihre Tochter liebt, schickt sie nicht mit einer Fremden fort!“, sagte ich böse. Mutter lehnte sich zurück auf das Bett, blickte mich müde an und sagte, „Wenn es keine andere Wahl gibt, dann tut man auch das...“

Kryschia

Während der nächsten sechs Tage übte ich meine neue Identität ein: Mein Name ist Krystyna Gryniewicz – aber alle nennen mich Kryschia. Ich wurde auf dem Lande geboren, bin katholisch, gehe jeden Sonntag zur Kirche und weiß, wie man betet.
Anna Schultz, die Schwester meines Vaters, lebt mit ihrer Familie in Warschau. Meine Mutter ist krank und kann sich nicht um mich kümmern. Weil ich eine begabte Schülerin bin und die Dorfschule seit Kriegsausbruch geschlossen ist, haben meine Tante Anna und Onkel Joseph sich einverstanden erklärt, dass ich bei ihnen in Warschau leben und die gute Schule, die es in der Stadt gibt, besuchen kann.

Jeden Abend wiederholte Mutter die folgenden Anweisungen: Sei freundlich und lächele, dann werden sie dich lieb haben. Tu, was man dir sagt und hilf soviel wie möglich. Wenn ich aufgehalten werde und du mich vermisst, weine still in dein Kissen, so dass die anderen dich nicht hören. Iss nie mit Messer und Gabel – Mädchen vom Dorf benutzen nur Löffel. Sei fleißig in der Schule und mach deine Hausaufgaben, so dass alle stolz auf dich sind. Schreib du mir nicht – ich werde dir schreiben. Und das Wichtigste von allem: Versuche immer, ein Lachen in deinen Augen zu haben. Kinder mögen keine anderen Kinder, die traurig ausschauen.

Ich fragte Mutter, ob die Leute, die ich in Warschau treffen würde, nett seien und sie antwortete zuversichtlich: „Sie sind sehr nett – und außerdem wollen sie dein Leben retten.“ (...)

Ein Pfiff ertönte und Lydka und ich trennten uns von Mutter. Die Tränen wollten mir aus den Augen strömen, aber ich hielt sie mit größter Mühe zurück. Als Mutter mich umarmte und flüsterte: „Ich komme nach,“ spürte ich, wie ihre Hände zitterten.

Wir setzten uns auf die Bank in einem der Abteile, die Lokomotive pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung. Mutter stand in ihrem weißen Kleid mit hellblauen Blumen am Bahnsteig und winkte mir zu. Sie hatte Tränen in den Augen und ein breites Lächeln auf den Lippen, aber ich wusste, dass ihr Lächeln nicht echt war...

(...) Ich konnte mir nur schwer vorstellen, dass ich vom Zug springen, auf Leute, die ich noch nie gesehen hatte, zulaufen und sie umarmen und küssen würde. Was, wenn sie nicht nett wären? Wenn sie mich nicht mochten, würden sie mich vielleicht allein dort stehen lassen...(...)

Wie benimmt man sich in Warschau?

(...)
Das war’s. Ich löschte Marta aus und wurde durch und durch Kryschia. Sonntags ging ich mit der ganzen Familie in die Kirche. Ich war tief beeindruckt von der Stille und dem Reichtum an Gemälden und Skulpturen. Ich beobachtete, wie jeder, der sich dem Altar näherte, sich niederbeugte, hinkniete und bekreuzigte. Ich, Krystyna Gryniewicz, beschloss, allen zu zeigen, was für eine fromme Katholikin ich war. Ich kniete am Eingang der Kirche nieder und rutschte auf meinen Knien den ganzen Weg nach vorne zum Altar. Als wir nach Hause kamen, strich mir Frau Czaplinska Salbe auf meine wunden Knie und hängte mir ein Kettchen mit einem Anhänger der Muttergottes mit dem Jesuskind um den Hals. (...)

Einige Tage später, während Frau Czaplinska mir das Haar kämmte, sagte ich, ich hätte das Gefühl, als wären Anna und Joseph Schultz meine Eltern und ich würde auch nach dem Krieg eine Christin bleiben. Ich sagte auch nach, was die Kinder im Hof gesagt hatten: „Gut, dass es keine Juden mehr gibt.“ Das war ein Fehler. Frau Czaplinska zog mich am Haar und drehte mein Gesicht zu ihr. In der rechten Hand hielt sie meine Wange und mit ihrer linken Hand die Haarbürste, während sie mit lauter Stimme drohte: „Wage es nicht, das noch einmal zu sagen. Hörst du? Wir haben deiner Mutter versprochen, dass wir auf dich aufpassen werden und dass du ein normales Mädchen bleibst. Du hast eine Mutter, du bist Jüdin und alles andere ist nur Verstellung. Ist das klar?!“ Sie ließ von meinem Gesicht ab, drehte meinen Kopf zurück und fuhr fort, mit sehr groben Strichen mein Haar zu kämmen.

Gruppe 4: Nachkriegszeit

Der Krieg ist zu Ende

Und plötzlich sagte mir Frau Czaplinska, der Krieg sei zu Ende und die Deutschen wären auf dem Rückzug. (...)

„Ich muss dir etwas Furchtbares sagen. Du kannst weinen, schreien, brüllen.“ Sie schwieg einen Moment, nahm einen tiefen Atemzug, seufzte und überbrachte mir dann die Nachricht, die ich vorausgeahnt hatte: „Deine Mutter ist nicht mehr am Leben. Sie wird nie wieder zurückkommen.“ Ich schrie nicht und ich weinte nicht. Ich war müde. „Es gibt Juden, die es nach Warschau geschafft haben...“, versuchte sie zu sagen, aber ich unterbrach sie. „Es gibt noch Juden dort?“ Ich hatte mehr als zwei Jahre lang keine Juden mehr gesehen und konnte nicht glauben, dass es noch Juden in Polen gab. „Ja, und einige von ihnen haben sich in Warschau zusammen gefunden.“ „Das ist mir egal. Ich bleibe bei dir!“ sagte ich entschlossen, legte mich auf das Bett und drehte meinen Kopf zur Wand.(...)

Ich beschloss, dass ich nie Jüdin gewesen war, dass ich keine Jüdin sei, und dass ich niemals mehr Jüdin sein würde. Ich spielte mit den Kindern im Hof und verfluchte jeden Passanten, der jüdisch aussah. Ich ging weiterhin in die Kirche und betete voller Andacht. Ich wollte keinerlei Verbindung mit dem jüdischen Volk. Mit angehaltenem Atem wartete ich darauf, dass das Schuljahr beginnen möge. Frau Czaplinska hatte mir versprochen, sie würde alles tun, damit ich wieder zur Schule gehen könne.(...)

Großvater will mich zurückhaben

Eines Nachmittags saß ich mit Frau Czaplinska in der Wohnung, als es an der Tür klopfte. Ich öffnete und zwei Männer standen im Flur – ein älterer, beinahe alter Mann und ein junger Mann. Ich erkannte sie sofort. Großvater Itzhak und Onkel Leon, der Bruder meines Vaters. Großvaters Augen waren leblos, er sah traurig aus und sein Rücken war gekrümmt. Großvater blickte mich an und erwartete eine freudige Begrüßung oder eine Umarmung, ich aber fing an zu schreien: „Ihr schmutzigen Juden. Verschwindet von hier. Warum seid ihr gekommen? Um unsere Wohnung voll zu stinken? Geht hin, wo alle Juden sind. Wir brauchen euch hier nicht...“ Wäre Frau Czaplinska nicht gekommen und hätte mich zum Schweigen gebracht, ich hätte noch weiter geschrien. Frau Czaplinska wandte sich höflich an die beiden Männer und bat sie in die Wohnung. Die drei sprachen untereinander und Frau Czaplinska fragte mich: „Erinnerst du dich an deinen Großvater, den Vater deiner Mutter?“ Mit flehenden Augen blickte Großvater mich an. Ich schaute ihm gerade ins Gesicht und sagte: „Nein. Krystyna Gryniewicz hat keinen Großvater.“

Beklemmende Stille. Voller Schmerz sagte Großvater zu Frau Czaplinska: „Nur ein paar wenige Juden aus Tschortkov sind am Leben geblieben ... Sie haben das Ghetto liquidiert und alle Juden weggebracht... Sie wissen, wohin...“ Frau Czaplinska schüttelte den Kopf. Sie teilte seinen Schmerz. „Meine Frau Monja und ich haben uns im Keller der Apotheke versteckt, aber jemand hat uns verraten, so dass wir auf die Straße fliehen mussten. Monja wurde erschossen, und ich schlug mich alleine weiter durch. Ich weiß nicht, was mit meiner Tochter Lunia geschehen ist. Seit sie abgereist ist, haben wir nichts von ihr gehört. Niemand ist übrig geblieben von meiner Familie. Ich will nur meine Enkeltochter zurück...“ „Ich bin nicht deine Enkeltochter...“ Ich schrie ohne jede Rücksicht auf Großvaters Schmerz. „Frau Czaplinska, glaub diesem Juden kein Wort! Du weißt selbst, woher ich komme. Verschwindet hier! Verschwindet hier! Verschwindet hier!“(...)

Marta oder Kryschia

Wir traten in eine geräumige Eingangshalle, an die Zimmer angrenzten. Kinder ungefähr meines Alters liefen herum, sie sahen glücklich aus. Ich folgte der Frau weiter, bis wir an eine große, durchsichtige Türe gelangten. Wir traten ein und die Tür schloss sich hinter uns. Die Frau gab mir einen Stuhl und ein Glas Wasser und fragte: „Wie heißt du?“ Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Sollte ich sagen, dass ich Krystyna Gryniewicz bin oder Marta Winter? Ich nahm also noch einen Schluck Wasser und fragte: „Was ist das hier für ein Ort?“ „Das ist ein Heim für Kinder, deren Eltern nicht zurück gekommen sind und die auf sich selbst gestellt sind.“ „Sind alle hier jüdisch?“, fragte ich. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so viele Juden an einem Platz gesehen zu haben. „Alle hier sind jüdisch. Und woher kommst du?“ „Ich?“ Einen Augenblick lang war ich verwirrt. „Ich bin aus Warschau... Aus Tschortkov... Nein, ich bin aus Warschau.“ „Und wie heißt du?“ Schon wieder stellte sie diese komplizierte Frage. „Ich heiße Krystyna Gryniewicz und alle nennen mich Kryschia. Ich bin die Nichte von Frau Anna Schultz. Ich bin vom Dorf zu meiner Tante gezogen, weil meine Mutter krank war.“ Ich richtete mich auf und hielt meine gut vorbereitete Rede. „Oh,“ sagte die Frau nachdenklich. „Warum kommst du dann in ein jüdisches Kinderheim?“ „Das war Großvater. Großvater hat mich hierher gebracht.“ „Großvater...“ „Ja. Er hat den Auftrag gegeben, mich von Frau Czaplinska zu entführen. Er wollte, dass ich jüdisch bin, aber ich will nicht jüdisch sein. Frau Czaplinska hat mir gesagt, dass Mutter gestorben ist und dass auch Vater gestorben ist und dass ich bei ihr bleiben und wieder in die Schule gehen kann.“ „Lernst du gern?“ „Sehr gern.“ „Wie hieß deine Mutter?“ „Meine Mutter hieß Netty. Sie hat versprochen, mich holen zu kommen, aber sie ist nicht gekommen. Mutter nannte mich Martusch. Vater nannte mich Martale,“ sagte ich und dabei lächelte ich zum ersten Mal seit langer Zeit. „Wie alt bist du?“ „Ich bin zehn.“(...)

Im Kinderheim

Am Anfang betete ich und bekreuzigte mich jeden Tag, aber langsam hörte ich damit auf. Ich fühlte mich wunderbar mit meinen jüdischen Freunden, die mich bei all ihren Spielen mitmachen ließen. Ich war in einem Raum mit 24 Waisenmädchen und jede Nacht vor dem Schlafengehen erzählte uns eines der Mädchen, was ihr während des Holocaust geschehen war und wie sie überlebt hatte.(...)

Im Kinderheim hörte ich zum ersten Mal von Eretz Israel und lernte die Geschichten der Helden dieses Landes: Judas Makkabäus, König David, Gideon und Samson. Unsere Betreuer erzählten uns von Juden, die schon vor dem Krieg Polen und Russland verlassen hatten und Alijah nach Eretz Israel gemacht hatten. Ich erfuhr über das Leben im Kibbutz und den großen Traum, einen jüdischen Staat in Eretz Israel zu gründen. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an die Idee, Jüdin zu sein und an die Idee, mit meinen Freunden gemeinsam nach Eretz Israel zu gehen. Mein Name aber war noch immer Kryschia. (...)

Unterwegs nach Eretz Israel

(...) Von Deutschland aus wurden wir, die Kinder des Kinderheimes, in ein Lager in Frankreich gebracht. In Marseilles gingen wir an Bord der „Champollion“ und fuhren nach Eretz Israel. (...)

Ich war elf Jahre alt, als ich in dem landwirtschaftlichen Kinderdorf in dem kleinen israelischen Ort Magdiel ankam. Die Kinder in diesem Dorf kamen aus Polen, der Tschechoslowakei, aus Griechenland und Bulgarien. Es gab junge Frauen und junge Männer als Betreuer, Jungen und Mädchen waren in voneinander getrennten Wohnquartieren untergebracht.

Alles fiel mir schwer. Die Hitze plagte mich. Ich sprach polnisch, hebräisch verstand ich nicht und mit meinen Betreuern kam ich nicht zurecht. Langsam wurde es besser. Ich freundete mich mit den Jungen und Mädchen an und wir wuchsen zu einer großen Familie zusammen. Als der Beginn des neuen Schuljahres angekündigt wurde, war niemand glücklicher als ich. Als ich in der Schule nach meinem Namen gefragt wurde, antwortete ich zum ersten Mal mit „Marta Winter“.

Schlusskapitel

Von 1948 bis heute

(...) Erst Ende der 1980er fühlte ich mich soweit, dass ich in der Lage war, nach Polen zu reisen. Leider war das zu spät. Ich besuchte Lydka, aber Frau Czaplinska konnte ich nicht mehr sehen. Sie war einige Jahre zuvor gestorben. Lydka sagte, Frau Czaplinska hätte bis zu ihrem Todestag um mich getrauert. „Frau Czaplinska wollte so gerne wissen, wen du geheiratet hast. Sie hoffte, dass du einen guten Ehemann hast,“ sagte Lydka. „Ich bin sicher, dass sie getröstet gewesen wäre, wenn sie Amos gesehen hätte.“

Frau Czaplinska, Anna und Joseph Schultz und Lydka sind alle als Gerechte unter den Völkern anerkannt. Ihre Namen sind im Garten der Gerechten unter den Völkern in Yad Vashem in Stein eingraviert. Seit einigen Jahren führe ich Reisegruppen in Polen. Ich habe auch meinen Geburtsort Tschortkov besucht, der heute in der Ukraine liegt. Amos kommt manchmal mit und bei unserer letzten Reise hat uns auch Tante Lunia begleitet.

Ich suchte den Schwarzen Wald auf, in dem mein Vater ermordet worden war. Ich konnte einige der Gebäude ausmachen, die mir im Gedächtnis geblieben waren, und besuchte sie: Das Haus in der Rinekstraße, die Synagoge, die Apotheke, in der Mutter gearbeitet und der Kellerraum, in dem ich mich versteckte hatte, und das Haus, in dem Mutter, Vater und ich zuletzt zusammen gelebt hatten. Dort stehen noch die Möbel meiner Eltern – die großen Betten, mit denen der Raum bereits ausgefüllt war, Mutters Schminktisch, das Bücherregal und der Tisch. Die Leute, die heute in diesem Haus leben, behaupten, sie hätten die Möbel in einem Laden gekauft. Die älteren Einwohner von Tschortkov sind die einzigen, die sich daran erinnern, was die Deutschen und die Ukrainer aus der Gegend den Juden angetan haben. Gemeinsam mit anderen errichteten wir ein großes Denkmal im Schwarzen Wald. Jeder, der hierher kommt, wird sich erinnern und wird alle Einwohner der Stadt daran erinnern, dass es in Tschortkov einmal eine blühende jüdische Gemeinde gab, die zerstört worden ist, und dass viele Juden der Stadt im Wald ermordet worden sind.

Unter den Juden der Stadt gab es eine kleine Familie – die Familie Winter. Meine Mutter Netty, mein Vater Israel und ich, ihre kleine Tochter, Marta.

Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung

Der Psychoanalytiker Erik H. Erikson (1902 - 1994) erweiterte in seinen Arbeiten die klassische Psychoanalyse um die psychosoziale und die psychohistorische Dimension. Erikson erforscht u.a. die Abhängigkeit der Ich-Identität von historisch-gesellschaftlichen Veränderungen. In seinem Stufenmodell übersetzt er die Phasenlehre Freuds ins Soziale und beschreibt acht Lebenskrisen, von frühkindlichen Verhaltensweisen zum Erwachsensein. Die kindliche Identität entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen des Kindes und den Anforderungen der sozialen Umwelt. Die Interaktion des Kindes mit seiner Umwelt ist somit zentral für seine Entwicklung. Jede der acht Stufen stellt einen bestimmten Konflikt dar, dessen Bewältigung das Fundament bildet, um die Krise der folgenden Phase zu bearbeiten.

Phase 1: Vertrauen vs. Ur-Mißtrauen (Säuglingsalter)

In dieser ersten Phase entwickelt sich das Identitätsgefühl des Kindes und sein Gefühl der Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Sobald das Kind gelernt hat, dass die Mutter es vorübergehend verlassen kann, aber immer wieder zurückkommt, erwirbt es Urvertrauen in die menschliche Gemeinschaft und bildet das Gefühl heraus, selbst in einer Ordnung aufgehoben und von sinnvollen Handlungen umgeben zu sein. Werden dem Kind Forderungen nach körperlicher Nähe, Sicherheit, Geborgenheit, Nahrung etc. verweigert, entwickelt es Bedrohungsgefühle und Ängste, da eine weitgehende Erfüllung dieser Bedürfnisse lebenswichtig ist. Zum anderen verinnerlicht es das Gefühl, seine Umwelt nicht beeinflussen zu können und ihr hilflos ausgeliefert zu sein. Ein Ur-Misstrauen kann sich etablieren. Es können infantile Ängste des „Leergelassenseins“ und „Verlassenwerdens“ entstehen.

Phase 2: Autonomie vs. Scham und Zweifel (Kleinkindalter, ca. 2.-3. Lebensjahr)

Die Entwicklung der kindlichen Autonomie baut auf dem erworbenen Grundvertrauen auf. Die Bedingung für Autonomie wurzelt in einem festen Vertrauen in die Bezugspersonen und in sich selbst, dem Gefühl, nach seinem Willen handeln zu dürfen, ohne dass die grundlegende Geborgenheit in Gefahr gerät. Die Einschränkung der explorativen Verhaltenweisen des Kindes führt zu einem Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Wünsche und Bedürfnisse. So kann eine grundlegende Scham entstehen, wenn das Kind in seiner Autonomie als Individuum nicht anerkannt wird.

Phase 3: Initiative vs. Schuldgefühl (Spielalter, ca. 4.-5. Lebensjahr)

In dieser Phase öffnet sich die symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Kind, und das Kind entwickelt ein Gefühl für soziale Rollen und Institutionen. Außerdem verlangt das Kind in dieser Phase nach körperlicher und geistiger Weiterentwicklung. Wird kein Boden für diese Entwicklung bereitet, kann ein Schuldgefühl in bezug auf diese neue Eigeninitiative entstehen. Gegebenenfalls verinnerlicht das Kind die Überzeugung, dass es selbst und seine Bedürfnisse dem Wesen nach schlecht seien. Wenn die Loslösung von der Mutter und die Einübung sozialer Rollen nicht gelingt, können die Entwicklung des Kindes gelähmt und sogar psychosomatische Krankheiten ausgelöst werden.

Phase 4: Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl (Schulalter, ca. 6.-12. Lj.)

In dieser Phase entwickelt das Kind den Drang zu eigener Produktivität. Es lernt, sich Anerkennung zu verschaffen, indem es etwas leistet, und entwickelt Lust, sich mit
Eifer einer Aufgabe zuzuwenden. Kinder in diesem Alter wollen zuschauen und mitmachen, beobachten und teilnehmen; wollen, dass man ihnen zeigt, wie sie sich mit etwas beschäftigen und mit anderen zusammen arbeiten können. Das Bedürfnis des Kindes, etwas Nützliches und Gutes zu machen, bezeichnet Erikson als Werksinn bzw. Kompetenz. Ohne Unterstützung kann sich aber statt dem positiven Gefühl etwas zu leisten ein Gefühl von Unzulänglichkeit und Minderwertigkeit herausbilden. Wenn dem Kind keine „Werkzeuge“ gegeben sind, um seine Produktivität auszuleben, leidet darunter sein Zutrauen und Hoffnung. Das Kind wird damit in seiner Entwicklung zurückgeworfen, es verliert das Vertrauen in seine Fähigkeiten.

Phase 5: Identität vs. Ablehnung (Adoleszenz, ca. 11./12.- 15./16. Lj.)

Die Kindheit ist beendet mit der Entwicklung von produktiven Fertigkeiten (soweit in der vorherigen Phase gelungen) und mit Eintritt der sexuellen Reife. Hier beginnt nun die Jugendzeit. Die physischen Veränderungen wirken erneut stark verunsichernd und die Heranwachsenden sind stark orientiert an der Außenwahrnehmung. Auf der Suche nach einem neuen Ich-Gefühl muss der Jugendliche viele Kämpfe der früheren Jahre noch einmal durchkämpfen. Identität entsteht in dieser Phase durch die Zuversicht, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung ungefähr übereinstimmen.

Phase 6: Intimität und Solidarität vs. Isolierung (frühes Erwachsenenalter)

Die Ausbildung einer eigenen starken Identität in den vorherigen Phasen ist Voraussetzung, um in dieser Entwicklungsstufe damit zu beginnen, intime Beziehungen aufzubauen. Wird zu wenig Wert auf den Aufbau intimer Beziehungen im Kindheits- und Jugendalter gelegt, kann das dazu führen, sich von Freundschaften, Liebe und Gemeinschaften zu isolieren. Erst wenn diese Stufe erfolgreich absgeschlossen wurde, ist der junge Erwachsene fähig zur Liebe. Damit meint Erikson die Fähigkeit, Unterschiede und Widersprüche zwischen Menschen in den Hintergrund treten zu lassen. Ist das Ich nicht stark genug, um die Fähigkeit zur Liebe zu entwickeln, können die Beziehungen zu anderen Menschen entweder in Selbst-Bezogenheit und sozialer Isolierung oder in Selbstaufopferung und Verschmelzung bestehen.

Phase 7: Generativität vs. Selbstabsorption (Erwachsenenalter)

Mit Generativität bezeichnet Erikson die Fähigkeit, eigene Kinder großzuziehen, und sich auch durch soziales Engagement, sowie in den Bereichen Kunst, Wissenschaft und Lehre für zukünftige Generationen einzusetzen. Wurden die vorherigen Phasen nicht gut durchlebt, und die Fähigkeit zur Fürsorge nicht erlangt, kann es zu einer Stagnation kommen, in der man sich nur um sich selbst kümmert. Fixierungen in dieser Phase zeigen sich in übermäßiger Bemutterung, in Leere und Langweile oder generell in zwischenmenschlicher Verarmung.

Phase 8: Integrität vs. Verzweiflung (reifes Erwachsenenalter)

Der letzte Lebensabschnitt stellt den Menschen vor die Aufgabe, auf sein Leben zurückzublicken. Setzt sich der Mensch in dieser Phase nicht mit Alter und Tod auseinander (und spürt nicht die Verzweiflung dabei), kann das zur Anmaßung und Verachtung dem Leben gegenüber führen.

Quellen: Erik H. Erikson: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 2005 (1957).
Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt am Main 1973.