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«Gerechte unter den Völkern» und «Stille Helden»

Leitbilder für historisches Lernen

Beate Kosmala, Gedenkstätte Stille Helden, Berlin

  1. Zitat aus der Online-Ausstellung Besa, ein Ehrenkodex – Muslimische Albaner retten Juden während des Holocaust, Internationalen Schule für Holocauststudien (ISHS) der Gedenkstätte Yad Vashem.
  2. Katalog Gedenkstätte Stille Helden, hrsg. von der Gedenkstätte Stille Helden in der Stiftung Gedenkstätte Deutscher Widerstand. Redaktion: Prof. Dr. Johannes Tuchel, Texte: Beate Kosmala, Barbara Schieb, Claudia Schoppmann, Johannes Tuchel, Martina Voigt, 2. überarbeitete Auflage Berlin 2009.
  3. Z.B. Inge Deutschkron: Sie blieben im Schatten. Ein Denkmal für «stille Helden», Berlin 1996; Inge Deutschkron und Wolfgang Benz: Stille Helden. Zeugnisse von Zivilcourage im Dritten Reich. Mit einem Beitrag von Johannes Rau. Hrsg. von der Kultur-Stiftung der Deutschen Bank, Frankfurt am Main 2002; Wolfram Wette (Hrsg.), Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkrieges, Freiburg i. Br. 2005.
  4. Beate Kosmala: Zivilcourage in extremer Situation. Retterinnen und Retter von Juden im «Dritten Reich», in: Zivilcourage lernen, Hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2004, S. 106-116; dies., Stille Helden, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 14-15 (2007), S. 29-34.
  5. Kurt R. Grossmann: Die unbesungenen Helden. Menschen in Deutschlands dunklen Tagen, Berlin, Wien 1964 (2. Auflage), S. 11.
  6. Berliner Zeitung, «Mutig und Menschlich», 9. Oktober 2014, S. 19.

Im vergangenen Jahr beging die israelische Holocaustgedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem ihr 60-jähriges Bestehen. Der Erinnerungsort Yad Vashem steht für das unermessliche Leid von Millionen jüdischer Menschen. Die Gedenkstätte feierte 2013 aber auch «50 Jahre ‹Gerechte unter den Völkern› », jenes faszinierende und wirkungsmächtige Programm, das sich zur Aufgabe gestellt hat, nichtjüdische Frauen und Männer aus verschiedenen Nationen auszuzeichnen, die unter Gefahr für Leib und Leben während des Zweiten Weltkrieges verfolgte Juden vor dem sicheren Tod retteten oder es versuchten. Die Beschäftigung mit den Geschichten der Menschen, die den Ehrentitel «Gerechte» erhielten und bis heute noch erhalten, ist von besonderer Bedeutung. Sie zeigen uns, die wir es für unsere Pflicht halten, uns mit der Herausforderung der Ermordung der europäischen Juden auseinandersetzen, wozu einzelne «Gerechte» in einem Meer von Gleichgültigkeit gegenüber Unrecht und Verbrechen im Guten fähig waren. Ihre Geschichten helfen zu verstehen, in welcher Welt wir leben.

Betrachten wir Hilfeleistungen und Rettungsaktionen für Juden während des Holocaust aus einer allgemeineren Perspektive, wird deutlich, dass sie sich stets in einem spezifischen historisch-politischen Kontext und innerhalb einer bestimmten Gesellschaft entwickelten. Die unterschiedlichen geschichtlichen Vorbedingungen, die jeweilige politische Situation vor 1939 bzw. 1941, die Stellung der jüdischen Minderheit in den Vorkriegsgesellschaften sowie tradierte Bilder und Vorurteile über Juden, aber auch die Beziehung des jeweiligen Landes zum Dritten Reich, die Art des Besatzungsregimes in den deutsch okkupierten Ländern und nicht zuletzt die militärische Situation im Kriegsverlauf beeinflussten in hohem Maße, inwieweit einzelne Menschen oder Gruppen einer Mehrheitsbevölkerung bereit oder in der Lage waren, unter eigenem Risiko, das ebenfalls unterschiedlich groß war, Juden vor der deutschen Vernichtungsmaschinerie zu retten. Von besonderer Bedeutung war auch, ob und ab wann das Vorgehen der Deutschen gegen Juden als gezieltes Vernichtungsprogramm erkannt wurde. Diese genannten Faktoren bestimmten die Handlungsspielräume der zur Rettung bereiten nichtjüdischen Helfer und die Überlebenschancen der verfolgten Juden. Es gibt in der Tat eine Vielzahl von Hilfsaktivitäten in ganz unterschiedlichen Kontexten.

Interessierte und Forscher, die sich näher mit der Rettung von Juden im europäischen Kontext beschäftigen, gehen davon aus, dass es um christlich geprägte Gesellschaften geht, in denen die jeweiligen christlichen Kirchen aber als Institutionen gegenüber der nationalsozialistischen bzw. deutschen antijüdischen Politik versagt haben, während einzelne Gläubige als Individuen oder kleine christliche Gruppierungen ihrem Gewissen gefolgt sind und mutige Hilfsaktionen geleistet haben. Dass auch eine ganze Gruppe muslimischer Retter aus Albanien zum Kreis der «Gerechten» gehört, ist bisher wenig ins Bewusstsein gedrungen.

Als das faschistische Italien im April 1939 Albanien eingenommen hatte, war die italienische Besatzung an der Verfolgung der kleinen jüdischen Minderheit im Lande kaum interessiert. Mehrere hundert Juden aus anderen Teilen Europas flohen nach Albanien.

Nachdem Italien im September 1943 kapituliert und die deutsche Wehrmacht das Land besetzt hatte, forderten die deutschen Besatzer Ende 1943 Listen mit allen Juden in Albanien. Diese «Einmischung in die inneren Angelegenheiten Albaniens» wurde vom albanischen Innenminister abgelehnt. Die ausländischen Juden mussten in der Folge versteckt werden. Mitglieder aller Religionen nahmen unbekannte Juden bei sich zu Hause auf. Sie riskierten ihr Leben für die Fremden. Aus dem albanischen Kerngebiet wurden keine Juden deportiert.

Zu den Rettern gehörte auch Refik Veseli, der zusammen mit seinen Eltern und zwei Brüdern Ende 1943 die aus Jugoslawien nach Tirana geflohene vierköpfige jüdische Familie Mandil, und drei weitere Menschen im Haus der Familie auf dem Lande aufnahm und sie vor den deutschen Besatzern versteckte. Hamid und Xhemal Veseli, die ebenso wie ihr älterer Bruder Refik als «Gerechte» ausgezeichnet wurden, erklärten ihr Handeln:

«Unsere Eltern waren fromme Muslime und glaubten wie wir auch, dass jedes Klopfen an der Tür ein Segen Gottes ist. […] Alle Menschen sind von Gott.»1 Die schlichte Aussage «Alle Menschen sind von Gott» ist erhellend.

Sie beinhaltet ein Bekenntnis, das der nationalsozialistischen Rassenideologie diametral entgegensteht, ein Bekenntnis zum Wert eines jeden Menschen und zum Lebensrecht aller. Hier wird die Bezeichnung «Gerechte» ganz einleuchtend: Eine Person, die für alle Menschen Gerechtigkeit möchte, die sich dem Unrecht und den Verbrechen widersetzt.

Doch welche Erklärungsansätze findet die Forschung? In den vergangenen zwanzig Jahren hat es weitaus mehr neue Studien zu Rettungsaktionen gegeben als in den fünf Jahrzehnten davor. Neben der Geschichtswissenschaft hat sich auch die empirische Sozialforschung den Helferinnen und Helfern zu nähern gesucht. Es gibt Ansätze, die vertreten, dass bestimmte, durch Herkunft erworbene und durch die Sozialisation verstärkte Charaktereigenschaften die wichtigste Grundlage für die Hilfsaktionen gewesen seien. Gegen diese Überlegungen sind vielfach methodische und inhaltliche Einwände erhoben worden. Scheinbar schlüssigen Erklärungsmodellen in der Helferforschung stehen immer wieder Einzelbeispiele entgegen, die diese Thesen widerlegen würden.

Nach jahrelanger Grundlagenforschung, teils im universitären und teils im Gedenkstättenbereich, wurde im Jahr 2008 in Berlin die Gedenkstätte Stille Helden mit dem Untertitel Widerstand gegen die Judenverfolgung (1933–1945) als Abteilung der Gedenkstätte Deutscher Widerstand eröffnet. Sie widmet sich sowohl den nichtjüdischen deutschen Frauen und Männern, die Jüdinnen und Juden lebensrettende Hilfe leisteten, als auch den Verfolgten, die sich dem Deportationsbefehl widersetzten und in ein Versteck flohen.

Die Geschichten vom Helfen und Retten werden in der Gedenkstätte Stille Helden stets aus diesen beiden Perspektiven erzählt und beziehen die Biografien der beteiligten Personen ein.2 Weshalb die Bezeichnung «Stille Helden»? Klar war, dass wir nicht – auch nicht für die Helfer und Retter – den Titel «Gerechte» übernehmen konnten, da er selbstverständlich allein den Menschen vorbehalten ist, die durch Yad Vashem als solche ausgezeichnet wurden. Wir zeigen zwar zahlreiche Geschichten von «Gerechten», aber auch viele andere von uns sorgfältig recherchierte Fälle, die aus den verschiedensten Gründen nicht zur Ehrung in Jerusalem eingereicht wurden. Der Begriff «stille Helden» war bereits durch einschlägige Buchtitel und öffentlichen Gebrauch vorgeprägt und wurde von vielen Seiten gewünscht.3

Andererseits stieß er – nicht zuletzt bei noch lebenden Helfern oder ihren Angehörigen, die ihr Handeln überwiegend als «Selbstverständlichkeit» oder als ihre menschliche Pflicht und als Gebot des Anstands bezeichneten – auf Vorbehalte, da man eine unangemessene Heroisierung befürchtete.

Auch die mit der Entwicklung der Ausstellung befassten Historikerinnen, die sich während der Forschung mit einer Vielzahl von Charakteren, Motivlagen und Handlungsweisen konfrontiert sahen, hatten zu Anfang Bedenken bezüglich der Bezeichnung «stille Helden». Aber auch der Begriff «Zivilcourage», der häufig mit dem Verhalten der «Gerechten» oder der «stillen Helden» in Verbindung gebracht wird und als pädagogische Leitlinie erwünscht ist, muss hinterfragt werden, ist er doch eher ein Element demokratischer Alltagspraxis, ein in demokratischen Zusammenhängen erwünschtes Verhalten, welches das Handeln der stillen Helden unter der NS-Diktatur nur unzureichend charakterisiert. Die Helferinnen und Helfer von Juden in Deutschland handelten nicht in Übereinstimmung mit den vorgegebenen und allerorten propagierten Werten, sondern mussten sich gegen die herrschenden Normen des NS-Staates auflehnen, denen ihr soziales Umfeld, die so genannte Volksgemeinschaft, zu folgen schien. Sie waren auf sich gestellt, mussten möglichst unerkannt bleiben und sich nicht nur der Gefahr aussetzen, für den verbotenen Kontakt mit Juden hart bestraft zu werden, sondern darüber hinaus aus der «Volksgemeinschaft», so fiktiv diese in vieler Hinsicht war, ausgeschlossen
zu werden. Man könnte allenfalls von gefährlicher Zivilcourage unter extremen Bedingungen sprechen.4

Schon in den 1950er-Jahren hatte sich der jüdische Journalist Kurt G. Grossmann, der bereits 1933 aus Deutschland entkommen war, in New York mit der Bedeutung von «Helden» in diesem Kontext auseinandergesetzt. Seinem Buch über Rettung im Holocaust, in dem er zum großen Teil über Hilfsaktionen in Deutschland berichtet, gab er 1956 den heute pathetisch anmutenden Titel «Die unbesungenen Helden». Er wolle, so seine Worte, der deutschen Jugend vermitteln, dass es auch ein Heldentum jenseits vom «Schlachtengedröhne» gebe. Helden sind für Grossmann jene, die «trotz der damit für sie verbundenen Gefahren gefährdeten Menschenbrüdern halfen».5 Diesen selbstlosen Menschenfreunden unter den Helferinnen und Helfern wollte er durch sein Buch «ein Denkmal des Dankes» setzen.

Bei Grossmanns Ansatz werden jedoch die weniger selbstlosen Motive und die Grauzonen menschlichen Verhaltens, die bei den Hilfs- und Rettungsaktionen ebenfalls eine Rolle spielten, ausgeblendet. Und es stellt sich die Frage: Welche Kriterien sind anzulegen, um Selbstlosigkeit zu attestieren? Ist es überhaupt sinnvoll, an der Vorstellung eines Heldenideals festzuhalten?

In unserer pädagogischen Arbeit versuchen wir zu vermitteln, dass sich die Bezeichnung «stille Helden» auf Menschen bezieht, die sich in einer bestimmten Situation, zu einem bestimmten Zeitpunkt, unter bestimmten Bedingungen mutig und menschlich verhalten und damit Verfolgten in einer existenziellen Bedrohung beigestanden und ihnen im besten Falle damit das Leben gerettet haben. Das bedeutet, Helfer können daher als «stille Helden» gehandelt haben, auch wenn sie vor und nach 1933 politisch versagt hatten, während des Novemberpogroms 1938 weggesehen bzw.

dazu schwiegen hatten, wenn sie in anderen Zusammenhängen unangenehme Eigenschaften an den Tag legten oder problematische Mütter und Familienväter waren.

Von der Berliner Gedenkstätte Stille Helden, die historisch-politische Bildung vermittelt, wird oft erwartet, dass sie insbesondere jugendlichen Besuchern Identifikationsmöglichkeiten und Vorbilder bieten solle. Hier ist Vorsicht geboten. Um ein wirkliches Verständnis für die Protagonisten zu ermöglichen, dürfen sie auf keinen Fall von vornherein als Vorbilder vorgegeben oder gar heroisiert werden, sondern in ihrem sozialen Kontext, in ihrem Alltag menschlich näher gebracht werden – mit allen ihren problematischen Seiten. Eine gelungene Auseinandersetzung mit ihnen, die auch Empathie ermöglicht, kann dann dazu motivieren, das eigene Verhalten im sozialen und politischen Alltag der Gegenwart zu überdenken, und sie kann im besten Fall zu Zivilcourage und Solidarität ermutigen. Das historische Beispiel des konkreten Handelns der «stillen Helden» gegen die zeitgenössischen Normen antisemitischer Verfolgungspolitik kann zur individuellen Positionierung herausfordern. Helfen oder Nicht-Helfen? Übernahme individuelle Verantwortung? Anpassen oder Widerstehen?

Wirksam und nachhaltig kann das Lernen aber nur dann sein, wenn die emotionale und kognitive Auseinandersetzung ohne vorschnelles Moralisieren die Wahrnehmung von Ambivalenz, Angst, Unsicherheit, Zwiespältigkeit oder gar Unfähigkeit auch bei den Helfern zulässt. Nur so kann glaubwürdig zu Zivilcourage angeregt werden.

Am Ende komme ich auf den oben erwähnten albanischen «Gerechten» Refik Veseli zurück. Als ich in diesem Sommer zur Eröffnung der Ausstellung Besa, ein Ehrenkodex – Muslimische Albaner retten Juden während des Holocaust nach Zürich eingeladen wurde, war ich sehr erfreut, zumal ich diese Ausstellung vor einigen Jahren schon in Yad Vashem gesehen und in eindrucksvoller Erinnerung behalten hatte. Gleichzeitig erschien es mir ein wenig exotisch, aus Berlin kommend in Zürich anlässlich von Rettung in Albanien zu sprechen. Kürzlich wurde ich eines Besseren belehrt:

Alles hängt mit allem zusammen. Im Oktober las ich zu meinem Erstaunen in der Presse, dass eine Sekundarschule in Berlin-Kreuzberg mit mehrheitlich muslimischen Schülern sich den Namen Refik Veseli gegeben hat. Schüler, Lehrer und Eltern haben mehrheitlich dafür gestimmt. Zu diesem Anlass kamen die Söhne von Refik Veseli und von Gavra Mandil zusammen mit ihren Frauen und einem Enkel von Rafik Veseli aus Tirana bzw. Tel Aviv in die deutsche Hauptstadt. Ron Mandil betonte, durch diese Namensgebung werde den Schülern heute vermittelt, was alles möglich ist, wenn man sich mutig und menschlich verhält. Eine Schülerin aus einer 10.

Klasse bringt die Wahl von Refik Veseli als Namenspatron ihrer Schule für sich auf den Punkt: «Der Name zeigt, dass Menschen mit verschiedenen Religionen zusammenhalten sollten.»6  Nun, das wäre doch schon ein wichtiger Anfang – in Berlin-Kreuzberg und anderswo.