Sonntag bis Donnerstag: 9.00-17.00 Uhr Freitags und an den Abenden vor einem Feiertag: 9.00-14.00 Uhr
Yad Vashem ist an Samstagen und jüdischen Feiertagen geschlossen.
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Die gleiche impotentia judicandi lähmt uns auch im Fall Rumkowski. Die Geschichte Chaim Rumkowskis ist eigentlich keine Lager-Geschichte, obwohl sie im Lager ein Ende findet: Es handelt sich um eine Ghetto-Geschichte, doch sagt sie zu dem grundsätzlichen Thema der durch Unterdrückung verhängnisvollerweise aufbrechenden Zwiespältigkeit des Menschen so viel aus, daß sie mir in diesem Zusammenhang fast schon allzu passend erscheint. Ich will sie hier wiederholen, auch wenn ich sie anderer Stelle bereits erzählt habe.
Nach meiner Rückkehr aus Auschwitz fand ich in meiner Jackentasche eine merkwürdige Münze aus einer Leichtmetallegierung. Diese Münze besitze ich noch heute. Sie ist zerkratzt und zerfressen; auf der einen Seite trägt sie den Davidstern (den „Schild Davids“), die Jahreszahl 1943 und das Wort Ghetto. Auf der Rückseite steht QUITTUNG ÜBER 10 MARK und DER ÄLTESTE DER JUDEN IN LITZMANNSTADT: Es handelte sich also um eine der Münzen, wie sie innerhalb der Ghettos als Währung kursierten. Viele Jahre lang hatte ich sie völlig vergessen, dann aber, etwa um 1974, habe ich ihre Geschichte rekonstruieren können, die faszinierend und düster zugleich ist.
Die Nazis hatten zu Ehren des Ersten Weltkriegs gegen die Russen siegreichen Generals Litzmann die polnische Stadt Lodz in Litzmannstadt umgetauft. In den letzten Monaten des Jahres 1944 waren die letzten Überlebenden des Ghettos von Lodz nach Auschwitz deportiert worden. Ich muß die damals bereits wertlos gewordene Münze auf der Erde im Konzentrationslager gefunden haben.
1939 hatte Lodz 750.000 Einwohner und war die polnische Stadt mit der meisten Industrie, die „modernste“ und gleichzeitig die häßlichste. Sie lebte von der Textilindustrie, wie Manchester oder Biella, und war abhängig von unzähligen großen und kleine Betrieben, die schon zur damaligen Zeit großenteils rückständig waren. Wie in allen Städten im besetzten Osteuropa, die eine gewisse Bedeutung hatten, machten sie die Nazis auch dort an den zügigen Aufbau eines Ghettos und führten wieder ein Ghettosystem ein, wie es das im Mittelalter und zur Zeit der Gegenreformation gegeben hatte, verschärft durch die neuzeitliche nationalsozialistische Brutalität. Das Ghetto von Lodz wurde bereits im Februar 1940 errichtet und war zeitlich das erste, von seinem numerischen Fassungsvermögen her das zweite nach Warschau: Zeitweise lebten dort mehr als 160.000 Juden, und es wurde erst im Herbst 1944 aufgelöst. Es war somit das am längsten existierende aller Nazi-Ghettos, und das ist auf zwei Gründe zurückzuführen: zum einen auf seine wirtschaftliche Bedeutung und zum anderen auf die verwirrende Persönlichkeit seines Vorstehers.
Er hieß Chaim Rumkowski: Ein ehemaliger Kleinunternehmer, der bankrott gegangen war, ließ er sich nach mehreren Reisen und verschiedenen Wechselfällen des Lebens 1917 in Lodz nieder. 1940 war er fast sechzig Jahre alt, ein kinderloser Witwer. Er genoß eine gewisse Achtung und war bekannt als Leiter wohltätiger jüdischer Einrichtungen und als ein energischer, ungebildeter und autoritärer Mann. Das Amt eines Ghetto-Vorstehers (oder Ältesten) war im Grunde genommen furchtbar, aber es war immerhin ein Amt, es brachte gesellschaftliches Ansehen, stellte seinen Inhaber eine Stufe über die anderen und brachte Rechte und Privilegien ein, das heißt Autorität. Und Rumkowski liebte Autorität über alles. Wie er zu diesem Amt gekommen ist, weiß man nicht. Vielleicht war es eine Posse im bösartigen Stil der Nazis (Rumkowski war ein seriös wirkender Dummkopf oder schien es wenigstens zu sein, also die ideale Zielscheibe des Spotts); vielleicht intrigierte er auch selbst, um gewählt zu werden: Sein Machthunger muß enorm gewesen sein. Es ist erwiesen, dass die vier Jahre seines Vorsteheramts – oder besser: seiner Diktatur – ein verblüffendes Gewirr aus größenwahnsinnigen Träumen, barbarischer Vitalität und echter diplomatischer und organisatorischer Fähigkeit waren. Er sah sich ziemlich bald als aufgeklärten absolutistischen Monarchen und wurde mit Sicherheit von seinen deutschen Dienstherren, die zwar nur ihr Spiel mit ihm trieben, aber doch auch seine Begabung für die Verwaltung und die Aufrechterhaltung der Ordnung schätzten, in dieser Vorstellung bestärkt. Von ihnen erhielt er die Genehmigung für ein eigenes Münzrecht, das heißt, er durfte sowohl Münzen schlagen (wie die, die ich besitze) als auch Papiergeld drucken, und zwar auf Papier mit Wasserzeichen, das ihm offiziell geliefert wurde. Mit diesem Geld, das sie in den Läden zum Kauf ihrer Lebensmittelrationen ausgeben konnten, wurden die entkräfteten Arbeiter des Ghettos ausbezahlt. Diese Rationen beliefen sich auf durchschnittlich 800 Kalorien pro Tag (ich erinnere nur beiläufig daran, dass mindestens 800 Kalorien zum Überleben im Zustand völliger Ruhe notwendig sind).
Von seinen hungernden Untertanen erwartete Rumkowski nicht nur Gehorsam und Respekt, sondern auch Liebe: In diesem Punkt unterscheiden sich die modernen Diktaturen von denen der Antike. Da er über ein Heer ausgezeichneter Künstler und Handwerker verfügte, die für ein Stück Brot auf einen Wink von ihm zu allem bereit waren, ließ er Briefmarken entwerfen und drucken, die sein Konterfei trugen, Haupthaar und Bart schneeweiß im Licht der Hoffnung und des Glaubens. Er besaß eine Kutsche, die von einem Klepper gezogen wurde, und in ihr fuhr er durch die Straßen seines winzigen Königreichs, die von Bettlern und Bittstellern überquollen. Er besaß auch einen Königsmantel, und er umgab sich mit einem Hofstaat von Schmeichlern und Meuchelmördern; von seinen Hofpoeten ließ er Hymnen dichten, in denen sowohl seine „starke und machtvolle Hand“ als auch der Friede und die Ordnung gefeiert wurden, die dank seiner Gaben und Fähigkeiten im Ghetto herrschten. Er gab in den erbärmlichen Schulen Anweisung, dass den Kindern, die Tag für Tag durch Epidemien, Unterernährung und Razzien der Deutschen hingerafft wurden, Aufsatzthemen zum Lob „unseres geliebten und weisen Vorstehers“ gestellt würden. Wie alle Alleinherrscher organisierte er eilig eine leistungsstarke Polizei – offiziell zur Wahrung der Ordnung, de facto zum Schutz seiner Person und zur Durchsetzung seines Regiments; sie bestand aus 600 mit Knüppeln bewaffneten Männern und einer nicht genau bezifferbaren Anzahl von Spionen. Er hielt viele Reden, von denen einige erhalten sind und deren Stil unverwechselbar ist: Er hatte die Redetechnik Mussolinis und Hitlers übernommen, die des inspirierten Vortrags, des Pseudogesprächs mit der Menge und der Herstellung eines Konsenses mittels Suggestion und Beifall. Vielleicht lag in seiner Imitation Absicht, vielleicht war es aber auch eine unbewußte Identifikation mit dem Modell des „notwendigen Helden“, das Europa damals beherrschte und von D’Anunzio besungen worden war; aber wahrscheinlicher ist es, daß sein Verhalten seiner Veranlagung zu einem kleinen Tyrannen entsprang, der nach oben hin machtlos, nach unten hin jedoch allmächtig ist. Wer Thron und Zepter besitzt, wer nicht befürchten muß, daß man ihm widerspricht oder ihn verlacht, der spricht so.
Dennoch war seine Persönlichkeit wesentlich komplexer, als sie bis hierher erscheint. Rumkowski war nicht nur Abtrünniger und Komplize; in gewisser Weise hat er nicht nur andere glauben gemacht, er sei ein Messias, sondern er muß sich nach und nach selbst für einen Messias gehalten haben, einen Erretter seines Volkes, dessen Wohlergehen er – zumindest hin und wieder – doch auch gewollt haben muß. Man muß Wohltaten tun, wenn man sich als Wohltäter fühlen will, und das Bewußtsein, ein Wohltäter zu sein, ist auch für einen korrupten Satrapen ein angenehmes Gefühl. Paradoxerweise wechselt seine Identifizierung mit den Unterdrückern ab mit seiner Identifizierung mit den Unterdrückten, oder beides vollzieht sich gleichzeitig. Denn der Mensch ist, wie Thomas Mann sagt, ein widersprüchliches Geschöpf, und wir können hinzufügen, daß er um so widersprüchlicher wird, je stärker die Spannungen sind, denen er ausgesetzt ist: An diesem Punkt entzieht er sich unserem Urteil in der gleichen Weise, wie ein Kompaß am Magnetpol plötzlich nicht mehr funktioniert.
Obwohl er von den Deutschen immer verachtet und verlacht wurde, ist es wahrscheinlich, daß Rumkowski sich selber keineswegs als Erfüllungsgehilfe verstand, sondern als ein autonomer Herr. Er muß die eigene Autorität wirklich ernst genommen haben: Als die Gestapo sich ohne Vorankündigung „seiner“ Ratgeber bemächtigte, kam er ihnen mutig zu Hilfe und setzte sich Hohngelächter und Schlägen aus, die er mit Würde zu ertragen verstand. Auch bei anderen Gelegenheiten versuchte er, mit den Deutschen handelseinig zu werden, die immer größere Tuchmengen aus Lodz forderten und von ihm eine immer größere Anzahl unnützer Mäuler (Alte, Kinder, Kranke) für die Gaskammern in Treblinka und später in Auschwitz. Auch die Härte, mit der er unverzüglich jede Widersetzlichkeit seiner Untertanen unterdrückte (in Lodz wie in anderen Ghettos existierten Kerngruppen eines tollkühnen politischen Widerstands zionistischer, bundistischer oder kommunistischer Prägung), entsprang nicht so sehr seiner Servilität gegenüber den Deutschen als vielmehr der Empörung über die „Majestätsbeleidigung“, über die seiner königlichen Person zugefügte Schmach.
Im September 1944 begannen die Nazis, da die russische Front näher rückte, mit der Auflösung des Ghettos von Lodz. Zehntausende Männer und Frauen wurden nach Auschwitz deportiert, zum „anus mundi“, dem Ort der letzten Säuberung des deutschen Universums. Sie waren völlig entkräftet und wurden fast alle auf der Stelle umgebracht. Im Ghetto blieben an die tausend Menschen zurück, die den Abbau der Fabrikanlangen besorgen und die Spuren der Massenvernichtung verwischen sollten: Sie wurden kurz darauf von der Roten Armee befreit, und ihnen verdanken wir die hier wiedergegebenen Berichte.
Über das Ende Chaim Rumkowskis gibt es zwei Versionen, so als hätte die Zwiespältigkeit, unter deren Zeichen er lebte, überdauert und seinen Tod verhüllt. Nach der ersten Version hat er im Zug der Auflösung des Ghettos versucht, sich der Deportation seines Bruders entgegenzustellen, von dem er sich nicht trennen wollte. Ein deutscher Offizier soll ihm daraufhin einen Vorschlag gemacht haben, freiwillig mit dem Bruder zu gehen, und er habe diesen Vorschlag angenommen. Demgegenüber behauptet die zweite Version, dass die Rettung Rumkowskis von Hans Biebow versucht worden sei, einer anderen zwielichtigen Person. Dieser undurchsichtige deutsche Unternehmer war der für die Ghetto-Verwaltung verantwortliche Beamte und gleichzeitig der Auftraggeber des Ghettos. Sein Amt war also heikel, weil die Textilfabriken von Lodz für die Wehrmacht arbeiteten. Biebow war keine Bestie, er war weder daran interessiert, unnötige Leiden zu schaffen, noch daran die Juden dafür zu bestrafen, daß sie Juden waren; ihn interessierten nur die auf legale und andere Weise erzielten Gewinne aus den Lieferungen. Das Leid im Ghetto berührte ihn, aber nur auf indirekte Weise. Er wollte, dass die Arbeitssklaven arbeiteten, und wollte daher nicht, daß sie an Hunger starben: Aber hier hörte sein moralisches Empfinden auch schon auf. Er war der eigentliche Chef des Ghettos und mit Rumkowski durch die Beziehungen zwischen Hersteller und Lieferant verbunden, die oftmals in einer rauen Freundschaft ihren Ausdruck finden. Biebow, ein kleiner Schakal, war viel zu zynisch, um den Rassenwahn ernst zu nehmen, und hätte die Auflösung des Ghettos am liebsten auf unbestimmte Zeit verschoben, da es für ihn eine hervorragende Einnahmequelle war, und Rumkowski, dessen Komplizenschaft er traute, vor der Deportation bewahrt: Woraus man ersieht, dass ein Realist oft objektiv besser ist als ein Theoretiker. Aber die Theoretiker der SS waren anderer Meinung, und sie waren die stärkeren. Sie waren gründlich*: Verschwindet das Ghetto, verschwindet auch Rumkowski.
Da Biebow keine anderen Möglichkeiten offenstanden, gab er, der über gute Beziehungen verfügte, Rumkowski einen Brief für den Kommandanten des Lagers mit, in das er gebracht werden sollte, und versicherte ihm, daß ihm dieses Schreiben Schutz und eine bevorzugte Behandlung verschaffen würde. Rumkowski soll Biebow gebeten haben, daß er und seine Familie bis Auschwitz mit jenem Anstand reisen dürften, der seinem Rang entspräche, und das hieß in einem Sonderwaggon, der am Ende des Zugs an die Güterwagen angehängt wurde, in denen die Deportierten ohne Privilegien zusammengepfercht worden waren. Biebow hat angeblich seinem Wunsch entsprochen. Aber die Juden in deutscher Hand hatten ein und dasselbe Schicksal, ob sie nun feig waren oder heldenhaft, bescheiden oder stolz. Weder der Brief noch der Sonderwaggon retteten ihn vor dem Gas, ihn Chaim Rumkowski, König der Juden.
Eine Geschichte, wie diese ist in sich nicht abgeschlossen. Sie ist komplex, sie wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet, sie fasst in sich die gesamte Thematik der Grauzone zusammen und lässt vieles in der Schwebe. Sie schreit und ruft, weil sie begriffen werden will, damit man in ihr ein Symbol erkennt wie in den Träumen oder in den Zeichen am Himmel.
Wer ist Rumkowski? Er ist kein Ungeheuer, aber auch kein gewöhnlicher Mensch; freilich ähneln ihm viele Personen aus unserer Umgebung. Die Pleiten, die seiner „Karriere“ vorausgingen, sind bedeutungsvoll: Es gibt wenige Menschen, die aus einem Bankrott auch noch moralische Kraft ziehen. Mir scheint, dass man in Rumkowskis Geschichte beispielhaft die geradezu physische Notwendigkeit erkennen kann, die unter politischem Zwang den undefinierten Bereich der Zwiespältigkeit und des Kompromisses entstehen läßt. Zu Füßen eines jeden absolutistischen Throns drängen sich Männer wie er, um ihren kleinen Anteil an der Macht zu ergattern. Dieses Schauspiel wiederholt sich: Man erinnert sich der Kämpfe bis aufs Messer in den letzten Kriegsmonaten am Hofe Hitlers und unter den Ministern von Salò. Auch sie gehörten der Grauzone an, waren in erster Linie blind, erst danach kriminell, verbissen um die Überreste einer niederträchtigen, morbunden Autorität kämpfend. Die Macht ist wie eine Droge: Das Verlangen nach der einen oder der anderen ist dem unbekannt, der sie nie ausprobiert hat, aber nach der Initiation, die (wie bei Rumkowski) rein zufällig sein kann, setzt die Abhängigkeit ein und der Zwang, die Dosis ständig zu erhöhen. Auch die Ablehnung der Wirklichkeit setzt dann ein und die Rückkehr zu den Allmachtsträumen aus Kindertagen. Wenn die Deutung Rumkowskis als eines von der Macht vergifteten Menschen Gültigkeit hat, dann muß man einräumen, daß seine Vergiftung nicht wegen, sondern trotz der Umgebung des Ghettos eingetreten ist, das heißt, das Gift ist so stark, daß es sogar noch unter Bedingung wirkt, die eigentlich dazu angetan wären, jede individuelle Willensregung auszulöschen. Tatsächlich war bei ihm wie seinen berühmteren Vorbildern das Syndrom der Fortdauernden und unwidersprochenen Macht deutlich erkennbar: die gestörte Sicht der Welt, die dogmatische Arroganz, das Bedürfnis nach Schmeicheleien, das krampfhafte Festhalten an den Schalthebeln der Macht, die Verachtung der Gesetze.
Alles das entbindet Rumkowski nicht von seiner Verantwortlichkeit. Daß aus dem Leiden von Lodz jemand wie Rumkowski hervorgegangen ist, schmerzt und brennt; hätte er seine Tragödie und die des Ghettos, die er dadurch befleckt hat, daß er ihr sein Persönlichkeitsbild, nämlich das eines Schmierenkomödianten, aufgezwungen hat, überlebt, hätte ihn kein Gericht freigesprochen, und auch wir können es nicht auf moralischer Ebene. Aber er hat mildernde Umstände: Ein niederträchtiges System, wie der Nationalsozialismus es war, übt eine entsetzlich korrumpierende Wirkung aus, der man sich schwer entziehen kann. Es erniedrigt seine Opfer und macht sie sich ähnlich, weil es auf große wie auf kleine Komplizenschaften angewiesen ist. Um ihm zu widerstehen, bedarf es eines festen moralischen Gerüsts, und das von Chaim Rumkowski, dem Kaufmann von Lodz, und das seiner ganzen Generation war marode. Aber wie stark ist unser eigenes, das von uns heutigen Europäern? Wie würde sich jeder einzelne von uns verhalten, wenn er von der Notwendigkeit getrieben und gleichzeitig von der Verführung verlockt würde?
Rumkowskis Geschichte ist die unerfreuliche und beunruhigende Geschichte der Kapos und der Lagerfunktionäre, der kleinen Bonzen, die einem Regime dienen, vor dessen Schuld sie die Augen verschließen; der Untergebenen, die alles unterschreiben, weil eine Unterschrift wenig kostet; die Geschichte dessen, der zwar den Kopf schüttelt, aber dennoch zustimmt; dessen, der sagt: „Wenn ich es nicht täte, dann täte es ein anderer, der schlimmer wäre als ich.“
In diesen Bereich des verminderten Gewissens muß man Rumkowski einordnen, als Symbolfigur und Inbegriff. Ob oben oder unten, ist schwer zu sagen: Er allein könnte uns Klarheit verschaffen, wenn er vor uns aussagen könnte, selbst wenn er löge, auch vor sich selber. Er würde uns dennoch helfen, ihn zu begreifen, so wie jeder Angeklagte seinem Richter hilft, auch wenn er es gar nicht will, auch wenn er lügt; denn die Fähigkeit des Menschen, anderen etwas vorzumachen, ist nicht unbegrenzt.
Aber das alles reicht nicht aus, das Gefühl der Bedrängnis und der Bedrohung zu erklären, das diese Geschichte vermittelt. Vielleicht ist ihre Bedeutung viel umfassender: In Rumkowski spiegeln wir uns alle, seine Zwiespältigkeit ist unsere eigene von Geburt an, die Zwiespältigkeit hybrider Wesen aus Lehm und Hauch des Lebens; sein Fieber ist unser eigenes, das unserer abendländischen Kultur, die „in die Hölle hinabsteigt mit Pauken und Trompeten“, und ihr armseliger Flitter ist das verzerrte Bild unserer Statussymbole. Sein Wahnsinn ist der des anmaßenden sterblichen Menschen, wie ihn Isabella in Maß für Maß beschreibt, des Menschen, der
[...] In kleine, kurze Majestät verkleidet,
Vergessend, was am mind’sten zu bezweifeln,
Sein gläsern Element – wie zorn’ge Affen,
Spielt solchen Wahnsinn gaukelnd vor dem Himmel,
Daß Engel weinen [...]
Genau wie Rumkowski sind auch wir von der Macht und vom Prestige so sehr geblendet, daß wir darüber unsere innerste Zerbrechlichkeit vergessen: Mit der Macht arrangieren wir uns, ob gerne oder nicht, wobei wir vergessen, dass wir alle im Ghetto eingeschlossen sind, dass das Ghetto umzäunt ist, dass außerhalb der Umzäunung die Herren des Todes stehen und ein wenig weiter der Zug auf uns wartet.
Primo Levi: Die Untergegangenen und die Geretteten. München 1993. Übersetzung Moshe Kahn, S. 60-69.
* deutsch im Original
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