Herbst 1941

Ghetto Warschau, Polen

„Der Gedanke, dass dies irgendwann sein Ende haben muss und dass wir dann wieder miteinander glücklich sein werden, sollte Dich trösten. Unsere Sehnsucht nach einander ist grenzenlos.“
Mamusha (Mama)

Der letzte Brief aus dem Warschauer Ghetto

Józef Tytelman und seine Frau Perla (geb. Kulik) lebten in Warschau. Sie hatten drei Kinder: Samuel (geb. 1921), der schwamm und für den Makkabi-Sportverein bei Wettbewerben antrat, Rachel (geb. 1922) und Rega (Rivka, geb. 1925). Als der Krieg ausbrach, flohen Józef, Samuel und Rachel aus Warschau. Józef und Rachel erreichten Bialystok. Rega und Perla blieben in Warschau zurück. Etwas später gelang es Samuel, nach Warschau zurückzukehren, wo er wieder mit seiner Mutter und Schwester zusammenkam. 1940 wurden Józef und Rachel nach Sibirien verbannt und zogen von dort aus weiter nach Kasachstan. Samuel, Rega und Perla wurden ins Warschauer Ghetto gesperrt und ermordet. Nach dem Krieg kehrten Józef und Rachel zurück nach Polen. Später wanderten sie auf dem Schiff „Exodus“ nach Eretz Israel (Mandatspalästina) aus.
In ihrem letzten Brief aus dem Warschauer Ghetto drückten Perla, Samuel und Rega ihre tiefe Sorge um Józef und Rachel aus, aber auch ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen.

Der letzte Brief, den Perla Tytelman, ihr Sohn Samuel und ihre Tochter Rega aus dem Warschauer Ghetto an das Familienoberhaupt, Józef (Juzek) und an Rachel in Sibirien schickten (1941)

Geliebter Józef und Rachelchen,,
seit Juli habe ich nichts von Euch gehört, außer einer einzigen Postkarte aus Archangelsk. Ich habe keinerlei Neuigkeiten von Euch. Ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Andere bekommen schließlich Briefe, sogar aus Archangelsk. Fajgenbaums Sohn zum Beispiel ist in ... [Sibirien], und seine Eltern haben diese Woche einen langen Brief von ihm bekommen. Wie kommt es, dass ich kein Wort von Euch höre? Wie lebt Ihr dort, unvorbereitet wie Ihr seid auf diese schreckliche Kälte? Ich wollte Euch warme Kleider schicken, aber ich habe es bis jetzt nicht geschafft ...

Ich tue hier was ich kann, um Euch nach Hause zurück zu bekommen, und es kostet mich viel Geld. Ich weiß nicht, ob etwas dabei herauskommt. Szyfmanowicz ist in Slonim, und es geht ihm finanziell sehr gut. Schreibt ihm, meine Liebsten. Ich möchte Euch sehen. Ich nehme alle meine Kraft zusammen, um für Euch zu überleben. Aber Ihr, meine Geliebten, müsst Eure Tapferkeit unter Beweis stellen: Ihr müsst beweisen, dass Ihr imstande seid, diese unverdiente Strafe und die Wanderungen mit Kraft und Würde zu überstehen. Der Gedanke, dass dies irgendwann ein Ende haben muss und dass wir dann wieder miteinander glücklich sein werden, sollte Euch trösten. Unsere Sehnsucht nach einander ist grenzenlos.

Solange es möglich war, habe ich gearbeitet bis zum Umfallen. Nun sind unsere Möglichkeiten geschwunden, und es wird schwieriger für mich sein, aber ich werde tun, was ich kann, um zu überleben, um Euret- und der Kinder willen. Schreibt mir, und sagt mir, wie Ihr ausseht. Habt Ihr etwas zu essen, etwas anzuziehen? Wird man Euch erlauben, nach Wilna oder anderswohin zu reisen? Ist mein süßes Rachelchen unter diesen fürchterlichen Bedingungen so schön geblieben wie immer? Wie geht es Tatuś (Papa) mit seinem Herzen? Denkt daran, Ihr müsst überleben, selbst wenn es nur für uns ist. Mein geliebtes Rachelchen, ich vertraue Dir Vaters Pflege an. Ich bin sicher, dass Du es verdienst, weil Du dieses Jahr so erwachsen geworden bist und Erfahrungen gesammelt hast, die Dir im Leben nützen werden.

Und Du, Juzikop, mein Geliebter, musst Rachelchen nicht nur Vater sondern auch Mutter sein, denn diese Aufgabe ist zu schwer für jemanden in ihrem jugendlichen Alter. Alle meine Hoffnungen sind auf Deine Willenskraft gerichtet. Wir sind Gottseidank gesund. Samek hat sein Elektrotechnik-Studium beendet. Er sucht nach Arbeit, und die ist nicht leicht zu finden. Rega ist gewachsen und ein hübsches Mädchen geworden. Es ist nur schade, dass Ihr sie nicht sehen könnt. Ich habe mich mit Familie Notman getroffen. Sie bekommen auch keine Briefe von ihm, nur von ihrer Tochter. Wie geht es Marian Flatow und den anderen Freunden, die Euer bitteres Schicksal teilen? Habt ihr Kontakt zu Manya, Abraham oder Wintal? Seid gesund. Ich küsse Euch innigst, und grüßt mir Eure Freunde.

Eure Mamusha (Mama)


Geliebter Papa und Rachelchen! Ich bin’s, Rega.
Geliebte, wir haben lange nichts von Euch gehört. Mutter, Samek und ich heben abwechselnd den einen Brief auf, den wir ja bekommen haben. Alles hat sich hier in den letzten eineinhalb Monaten ein bisschen geändert.

Samek studiert Elektrotechnik, und nachmittags lässt er sich zum Zahntechniker ausbilden. Er hat mir schon ein Loch im Zahn gestopft. Bis jetzt hat Mutter Geld verdient, und in letzter Zeit hat sie begonnen, mir bei der Hausarbeit zu helfen. Ihr müsst nämlich wissen, dass ich eine hervorragende Köchin bin. Geliebtes Rachelchen, es ist mir mehrmals gesagt worden, ich ähnele Dir (das sage nicht ich, sondern ein paar Deiner Freundinnen haben es gesagt). Geliebter Vati, wie fühlst Du Dich mit dem Rheuma, das Rachelchen erwähnt hat? Ich muss zum Ende kommen, denn Samek sagt, dass kein Platz für ihn übrig bleibt. Rachelchen, denk noch einmal daran, wenn ich Dich jetzt sehen könnte, würde ich nie wieder mit Dir streiten.

Ich küsse Euch zehn Millionen mal.
Rega


Geliebter Papa und Rachelchen!
Ich schreibe zuletzt, damit die oben unterschriebenen Damen Zeit haben, zu schwatzen. Sie haben schon alles gesagt und mir keinen Platz gelassen. Bei dieser Gelegenheit hat Mutter den Brief mit ihren Tränen begossen.

Wie Ihr schon wisst, haben wir seit Juli nur eine einzige Postkarte von Euch bekommen. Außerdem haben wir durch Luzer eine Nachricht erhalten, und wir sind ihm sehr dankbar. Seither haben wir Euch mindestens zehn Briefe geschrieben und keine einzige Antwort bekommen, so dass wir sterben vor Sorge, was aus Euch geworden ist. Geliebtes Rachelchen, glaub nicht, wir hätten Dich vergessen. Ich schicke Dir einen Brief von […], von allen, von allen Freundinnen, einen Brief, der Dir bestimmt viel Freude machen und Dich an Zeiten erinnern wird, die wir miteinander verbracht haben. Die Situation ist jetzt ziemlich schlecht, weil wir im sogenannten Judenviertel eingesperrt worden sind. Auch zu Hause hat sich viel verändert. Wir wohnen jetzt im Schlafzimmer [der Eltern]. Was ich tue, wisst Ihr schon. Ich muss zum Ende kommen, obwohl ich viel mehr zu sagen habe.

Denkt daran, das Wichtigste ist, sich nichts zu Herzen zu nehmen und durchzuhalten. Dann werden wir uns mit Sicherheit wiedersehen. Jetzt brät Mutter Koteletts. Ich würde Euch eines schicken, aber die Post ist nicht einverstanden.
Samek

Der letzte Brief, den Perla Tytelman, ihr Sohn Samuel und ihre Tochter Rega an ihren Mann Józef und ihre Tochter Rachel schickten
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