18. Mai 1942

Lager Les Milles, Frankreich

„Die damals empfangenen Gesetze sind einmalig und werden bestehen so lange die Welt existiert. Diese Gesetze sind so heilig und ehern, dass wir unter allen Umständen danach trachten müssen, solche zu halten.“

Siegfried Bodenheimers letzter Brief

Diese Worte schrieb Siegfried Bodenheimer in seinem letzten Brief an seinen Sohn Ernst in das Kinderheim Montintin, drei Monate vor Ernsts Bar Mitzwa.

Elieser ben Jehoschua (Ernst Bodenheimer) wurde 1929 in Niederhöchstadt, einer Stadt in Südwestdeutschland, geboren. Er war das zweite Kind Klara und Siegfried Bodenheimers, der im Ersten Weltkrieg gedient hatte. Seine ältere Schwester Ilse (später Ilana Jaron) wurde 1928 geboren.

Am 10. November 1938, während des November-Pogroms, mussten die zehnjährige Ilse und ihr Bruder Ernst von den anderen Kindern getrennt im Hof der christlichen Schule stehen, die sie besuchten. Dort, in Gegenwart aller Kindergarten- und Schulkinder, waren sie gezwungen, die Verbrennung der Torah-Rollen und jüdischer Bücher aus der benachbarten Synagoge mitzuerleben.

Am selben Nachmittag stürmten SS-Männer ihre Wohnung und nahmen Siegfried fest. Klara und die beiden Kinder wurden am kommenden Tag aus Niederhöchstadt ausgewiesen, gemeinsam mit allen Juden der Stadt. Siegfried wurde einige Wochen später freigelassen, und die Familie durfte nach Hause zurückkehren.

Im Februar 1939 wurde Ilse mit dem Kindertransport nach Frankreich geschickt. Die Gruppe von 120 Kinden, die nach der Kristallnacht Deutschland und Österreich verließen, wurde der Baronesse de Rothschild in Frankreich anvertraut und in einem ihrer Schlösser untergebracht. 1941 übernahm die jüdische Hilfsorganisation OSE in Frankreich die Verantwortung für die Kinder.

Siegfried, Klara und Ernst wurden ins Transitlager Gurs und von dort ins Lager Riversaltes deportiert. Später wurde Ernst durch die OSE aus dem Lager genommen und ins Kinderheim Montintin in Frankreich geschickt. Die OSE sorgte dafür, dass sich die Kinder gelegentlich treffen konnten.

Infolge von Gerüchten, man werde die Kinder nach Drancy deportieren, wurde Ilse in ein Kloster in der Gegend von Villefranche gebracht, gemeinsam mit einer Gruppe von Mädchen, die sich durch ihren deutschen Akzent leicht hätten verraten können. Die Mädchen wurden mit gefälschten Papieren ausgestattet und unter ihren angenommenen Identitäten dort versteckt.

Im Juli 1944 wurden Ilse und andere Kinder über die Pyrenäen aus Frankreich nach Spanien geschmuggelt und in ein jüdisches Kinderheim in Barcelona gebracht. Diese Gruppe gelangte Anfang November 1944 nach Eretz Israel (Mandatspalästina). Ilse, die ihren Namen in „Ilana“ änderte, heiratete schließlich Mordechai, der ebenfalls in Deutschland geboren wurde und auf dem selben Schiff emigriert war. 1946, zwei Jahre nach seiner Schwester, emigrierte Ernst nach Eretz Israel. Er änderte seinen Namen in Elieser ben Jehoschua und wurde Mitglied des Kibbuz Schluchot im Beit Sche’an-Tal.

Im August 1942 wurden Siegfried und Klara Bodenheimer von Drancy nach Auschwitz deportiert und dort ermordet. 1955 reichte Elieser ben Jehoschua zum Gedenken an seine Eltern Siegfried und Klara Gedenkblätter ein. 2017 übergab seine Witwe Rachel Ben Jehoschua Siegfried Bodenheimers letzten Brief für die Nachwelt an Yad Vashem.

Siegfried Bodenheimer
Lager Les Milles, 18.5.1942
Gruppe 13

Ernst Bodenheimer
Chateau Montintin

Mein lieber Ernst,

erhielt gestern Deine Zeilen vom 10ten datiert und bin froh zu hören, dass es dir gut geht. Wie immer habe stets das größte Interesse daran, zu erfahren, wie es mit der Achilla steht. Was ich vernehme, macht mich zufrieden und sehe ich dass in dieser Hinsicht nichts zu beanstanden ist.

Wollen hoffen, dass es so bleibt. Was hörst du von deiner lieben Ilse & von l. Mama? Von La Châtre wirst du auch stets Post haben.

Lieber Ernst, wenn wir auch zerstreut sind, aber eines können wir dem Allmächtigen danken, bis jetzt sind wir soweit alle gesund. Meinst du nicht auch? Lieber Ernst, nun stehen wir vor dem Schawuosfeste. Was dieses für uns bedeutet, brauche [ich] dir nicht zu sagen. Die damals empfangenen Gesetze sind einmalig & und werden bestehen so lange die Welt existiert.

Diese Gesetze sind so heilig & ehern, dass wir unter allen Umständen danach trachten müssen, solche zu halten. Zu diesem Jahre noch wirst du, mein Lieber, darauf verpflichtet – deshalb richte dich danach.

Trotz allem aber bleibe stets fidel, lebenslustig. Lass kommen was will, der Krieg wird noch lange gehen. Die Hauptsache, dass du dorten etwas nützliches lernst.

Hier gibt es wenig von Belang, in letzter Woche kamen [...] ziemlich [...] zum Arbeitseinsatz weg.

Noch kamen einige Kameraden nach U.S.A., und am Schabbes bekamen wieder einige ihre [...] für Mitte Juni.
Habe ich dir schon geschrieben, dass wir zwei schöne Hunde haben, die auf die Namen Pateraf u. Conchet hören?
„Oha“, ich sehe, daß du mich schon gut corrigieren kannst. Ja, ich hatte „Mattre“ falsch geschrieben. In meinen alten Schädel geht das Französisch nicht mehr so rein.

Z.B. heute Montag habe 1 Stunde Englisch & morgen 1 Stunde Französisch. Wie gesagt, das Englische sitzt.
Nun, mein lieber Ernst, halte gut Jomtow & sei vielmals gegrüßt und geküsst
von Deinem Papa

Grüßt alle bekannten Kinder, besonders Av Maksel.
Kannst mein Geschriebene lesen?

Lager Les Milles, 18.5.1942
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