Die Nazi-Ideologie gab den Juden nicht nur die Schuld an den Problemen der Welt, sondern bestimmte auch die Vernichtung jedes einzelnen jüdischen Kindes - der extremste Ausdruck von Völkermord. Als die neue Dauerausstellung in Auschwitz-Birkenau entworfen wurde, trat Yad Vashem an die weltweit anerkannte Künstlerin Michal Rovner heran und bat sie, einen Raum zur Erinnerung an die 1,5 Millionen jüdischen Kinder, die während des Holocaust ermordet wurden, zu kreieren.
Rovner entschied, weder eine Hommage oder ein Denkmal zu entwerfen, noch direkt auf die Aspekte des Massenmordes einzugehen.
„In Auschwitz-Birkenau befinden wir uns bereits in dem ‚Territorium des Mordes‘", erklärt sie. „Deshalb wollte ich einen Raum schaffen, der die Kinder selbst zum Mittelpunkt hat.“
Über ein Jahr studierte Rovner die Zeichnungen und Malereien, die von Kindern während des Holocaust gemacht worden sind. Zu diesem Zweck erstellte Yad Vashem für sie eine spezielle Sammlung aus seinem eigenen Archiv sowie auch aus anderen Archiven weltweit – vor allem aber aus der Sammlung für Bildende Künste des Jüdischen Museums in Prag.
„Eines Tages saß ich in Yad Vashem und schaute mir die Kindertagebücher und ihre Skizzen aus dem Holocaust an, als mir etwas auffiel”, sagt Rovner. „Nachdem ich einige dieser Zeichnungen gerahmt gesehen hatte, Reproduktionen hinter Glas, merkte ich plötzlich, wie viel Aussagekraft nur ein einziges, kleines Detail am Rande der Seite haben kann. Ich beschloss, die Zeichnungen nicht zu verändern oder ihnen meine eigene Version aufzudrängen. Ich glaube, dass kein Künstler eine bessere Arbeit zu dem Thema „Kinder im Holocaust“ hätte schaffen können als die, welche die Kinder schon selbst kreiert haben. Ich wollte, dass ihre authentischen Stimmen zu Gehör kommen.“
„Jene Kinder hatte man von ihren Familien, Häusern, Freunden, Hab und Gut, Landschaften und Freiheit fortgerissen. Tragischer Weise hinterließ die überwiegende Mehrheit von ihnen kein Lebenszeichen. Nur sehr wenige waren in der Lage, das Wesentliche, was sie festhalten konnten, zu dokumentieren: ihre Sichtweise. Dies ist genau das, was in ihren Zeichnungen zum Ausdruck kommt. Innerhalb einer aussichtslosen Situation, in der man ihnen keine Alternative ließ, fanden sie auf einem Stück Papier eine gewisse Freiheit, sich selbst und ihre Sichtweise der Realität auszudrücken."
„Man kann fast das Gefühl der Dringlichkeit der Situation in vielen der Zeichnungen spüren. Sie sind Reflexionen und Details aus dem Leben, das sie hinter sich lassen mussten, und der neuen Realität, der sie im Lager ausgesetzt waren. Diese Zeichnungen sind ihr Vermächtnis – und unser Erbe."
Um die große Menge der Zeichnungen und ihrer Elemente zu studieren und einzuordnen, teilte Rovner sie in Themen ein. Durch die Zusammenstellung verschiedener Fragmente von Kinderzeichnungen schuf die Künstlerin eine fließende Komposition, ohne direkt eine Geschichte zu erzählen.
Getreu ihrer Verpflichtung, an den Zeichnungen der Kinder nichts zu verändern und auch nicht ihre eigene Version hinzuzufügen, entschied Rovner, die Fragmente mit einem Bleistift an die Wände des ihnen gewidmeten Raumes so zu kopieren, wie sie waren. „Kinder werden auf allem malen, was sie können – sehr oft auch auf die Wände um sie herum", erläutert sie. Mit nur einem Bleistift und Kopierpapier zeichnete Rovner jeden Strich – Bild für Bild, Detail um Detail – im Maßstab 1:1 nach. Die Zeichnungen umranden aussagekräftig und fesselnd den gesamten Raum. Zusammen geben sie der Shoah der Kinder eine Stimme.
Wie ein Echo im Hintergrund, singend, redend, spielend, „erscheinen" und „verschwinden“ Originalaufnahmen von jüdischen Kindern aus dieser Zeit. Ein begleitender Text, der speziell für die Ausstellung von dem renommierten, israelischen Autor David Grossman geschrieben worden ist, rundet diese einzigartige Leistung, die vom Holocaust zerstörte Welt der jüdischen Kinder greifbar werden zu lassen, ab.
„Der Besucher betritt einen leeren Raum, in dem nichts gezeigt wird außer den Fußnoten der Kinderstimmen und einigen ihrer Zeichen an der Wand", sagt Rovner zum Schluss.
Die Zartheit und Zerbrechlichkeit dieser Zeichnungen werden durch die harte Realität des Lagers, das man durch die kahlen Fenster sieht, noch vergrößert. Diese Zeichnungen und Stimmen, diese „Spuren des Lebens" sind wie schwebende Seelen. Mit nur wenigen Bleistiftstrichen bringen sie ein kraftvolles Zeugnis zum Ausdruck.
Besonderer Begleittext von David Grossman
In der Shoah wurden 1,5 Millionen jüdische Kinder ermordet.
Der Mensch wird nie in der Lage sein, diese Tatsache voll und ganz zu verstehen.
Jedes Kind stand am Anfang seines Lebens. Jedes einzelne war eine ganze Welt.
Sie waren noch Kinder, als sie mit eigenen Augen sahen, wie Menschen, Familien und die Menschlichkeit selbst in Fetzen gerissen wurden.
Die meisten Kinder, die in der Shoah umgekommen sind, hinterließen keinerlei Spuren. Nur sehr wenige ihrer Tagebücher, Briefe und Zeichnungen sind erhalten geblieben.
Die Künstlerin Michal Rovner brachte, Zeile für Zeile, die Zeichnungen, die die Kinder in den Jahren des Krieges und der Vernichtung angefertigt haben, wieder zum Leben. Zerbrechlich und doch stark schimmern diese Bleistiftzeichnungen von den Wänden der Baracke; sie senden uns Signale von einer Kindheit, die weggefegt wurde und in der Shoah verloren gegangen ist.
Wenn wir sie hier in Auschwitz ansehen, können wir spüren, wie Kunst einen Ort schaffen kann, wo Leben und dessen Verlust gemeinsam existieren können. Für einen Moment können wir uns über die Zeichnung hinaus das Kind vorstellen, das sie malte - Bleistift in der Hand, Lippen angespannt, tief in Gedanken. Wir fühlen förmlich seine Anstrengung, einen Vogel genau zu zeichnen - ein Haus, die Soldaten, den leeren Kinderwagen, die Züge.
Zur selben Zeit tobte ein wilder Sturm in der Welt: die Gräueltaten der Nazis und ihrer Kollaborateure, die Millionen von Menschen ermordeten, gleichgültig und blind für die Einzigartigkeit eines jeden von ihnen. Sie waren es, die schließlich auch das Kind mit dem Bleistift in der Hand auslöschten.
In einer Mischung von kindlicher Unschuld und bitterer Enttäuschung hinterließen uns die Kinder Erinnerungen und Zeugnisse, die in den Fragmenten des grauenhaftesten Bildes, das jemals ein Mensch ersonnen hat, erhalten geblieben sind.
David Grossman Israel
New Yad Vashem website redirection
The good news:
The Yad Vashem website had recently undergone a major upgrade!
The less good news:
The page you are looking for has apparently been moved.
We are therefore redirecting you to what we hope will be a useful landing page.