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Album einer jüdischen Schule in Königsberg

Gruppenfoto von Schülern mit Lehrern bei der Einschulung, 1935 Die erste Seite des Albums der jüdischen Schule in Königsberg, 4.9.1936 Aufstellung der wachsenden Schüler- und Lehreranzahl der jüdischen Schule 1935-36 Schüler und Lehrer bei einem Schulausflug am Strand, 1935-36 Schüler und Lehrer bei einem Schulausflug am Strand, 1935-36 Schüler und Lehrer bei einem Schulausflug am Strand, 1935-36 Schüler und Lehrer bei einem Schulausflug am Strand, 1935-36 Schüler während des Unterrichts an der jüdischen Schule, 1935-36 Schüler bei der Gymnastik an der jüdischen Schule, 1935-36 Kinder der jüdischen Schule mit Erwachsenen bei einer Bootsfahrt, 1935-36 Seite aus dem Album zur Purim-Feier der jüdischen Schule Verkleidete Schüler während der Purim-Feier, 1935-36 Seite aus dem Album zur Chanukka-Feier der jüdischen Schule Kinder während einer Schulaufführung bei der Chanukka-Feier der jüdischen Schule, 1935-36 Seite des Albums. Die Zeichnung beschreibt die Verbindung zwischen den Schülern der Schule und ihren Freunden, die in andere Länder ausgewandert waren

Einleitung

Es liegt in der Natur einer Kamera, dass sie einen einzigen Augenblick festhält und dem Betrachter einen flüchtigen, manchmal zufälligen Einblick bietet, in dem das Verborgene gegenüber dem Offensichtlichen überwiegt. Forscher mühen sich nicht selten stundenlang, die Geschichte hinter dem Foto und die umfassendere Lebensrealität, die nicht vom Auge der  Kamera aufgefangen wurde, zu entschlüsseln. Dies ist jedoch nicht erforderlich bei dem einzigartigen Album, das im Oktober 2008 dem Yad Vashem Archiv gespendet wurde.

Unter den zahlreichen Materialien aus dem Nachlass des Paares Dr. David und Yehudit Kaelter, der dem Yad Vashem Archiv durch Eran Segal, den Enkel des Paares, gespendet (und unter der Signatur P. 46 aufgenommen) wurde, befindet sich auch ein singuläres Album. Dieses enthält die umfangreiche Dokumentation einer jüdischen Schule in Königsberg und deren vielfältiger erzieherischer Tätigkeit sowie der Geschichte der jüdischen Gemeinde am Ort, die in der Landschaft der jüdischen Gemeinden in Deutschland außergewöhnlich und einzigartig ist.

Die Gründung und ersten Jahre der jüdischen Schule

Die gesellschaftliche Ausgrenzung durch das Naziregime zwang die jüdische Gemeinde in Königsberg, ihre internen Aktivitäten aus eigener Kraft zu organisieren.  Dies erforderte erstmals und mit großer Dringlichkeit eine Zusammenarbeit der verschiedenen Strömungen der Gemeinde, der Orthodoxen, der Liberalen und der Zionisten, sowie ihre Vereinigung im Rahmen eines gemeinsamen Gemeinderats.

Die Notwendigkeit des Zusammenschlusses  der verschiedenen Kräfte in der Gemeinde führte zu schweren Meinungsverschiedenheiten und Konflikten zwischen den Parteien, denen es schwerfiel, insbesondere in Fragen von Bildung und Kultur, zu einem Einverständnis zu gelangen. Besonders erhitzten sich die Gemüter an der Einrichtung einer Gemeindeschule für die jüdischen Kinder, die in immer größerer  Zahl aus den allgemeinen Bildungsanstalten verdrängt wurden.  Als es schien, dass kein gemeinsamer Nenner gefunden werden könnte, wurde im Winter des Jahres 1934 aus dem nahegelegenen Danzig Dr. David Kaelter nach Königsberg eingeladen. Kaelter war diplomierter Lehrer und Absolvent der Universität Königsberg. Er kannte die Stadt und ihre Bewohner, doch war er bei seiner Ankunft von der Vehemenz der Auseinandersetzung überrascht. Er übernahm die Einrichtung der jüdischen Schule der Stadt, wobei ihm der Gedanke vor Augen stand, einen Rahmen zu schaffen, in dem das Gemeinsame das Trennende unsichtbar machen würde. Er glaubte, es müsse möglich sein, eine Bildungseinrichtung zu schaffen, die für alle Kreise in der Gemeinde akzeptabel sei und die aus einer gesamtjüdischen Haltung heraus funktionieren würde. Er war der Meinung, es sei wichtig, den Kindern gerade in so schweren Zeiten des wachsenden Judenhasses ein Gefühl des Stolzes auf ihr Erbe zu vermitteln, das ihnen ermöglichte, den schwierigen Alltag zu meistern. Außerdem betonte Kaelter die Bedeutung der allgemeinen  Fächer als integralen Bestandteil des Lehrplans. Er forderte, die Schule solle eine von Parteien unabhängige Gemeindeeinrichtung sein, und stellte einen Lehrplan auf, der neben Mathematik und Grammatik auch die Lehre der hebräischen Sprache und der jüdischen Geschichte umfasste. Die Schule wurde am 28. April 1935 unter Leitung Kaelters eröffnet und hatte zu diesem Zeitpunkt 82 Schüler. Der Unterricht fand im Gebäude einer der fünf Synagogen der Stadt und im benachbarten Waisenhaus statt.

Das Album, das Yad Vashem aus dem Nachlass Dr. David Kaelters übergeben wurde, spiegelt die Geschichte der jüdischen Schule in Königsberg deutlich wieder. Die Besonderheit des Albums besteht darin, dass es, zusätzlich zu den darin enthaltenen Fotografien, die Augenblicke aus dem Leben der Schüler und Lehrer der jüdischen Schule festhalten, Auszüge aus Geschichten, Briefe und Zeichnungen enthält, die auch die Gefühle und Ansichten der Fotografierten spiegeln. Außerdem zeigt das Album weitere Lernbereiche, mit denen sich die Schüler der Schule beschäftigten, wie z.B. Landwirtschaft und Sport.

Im Album befindet sich eine Anzahl von Briefen und Artikeln von Lehrern der Schule und von Eltern der Schüler, aus denen hervorgeht, welch zentrale kommunale Bedeutung diese Schule für die Königsberger Juden hatte. Im Laufe der Zeit wurden die religiös-kulturelle Tätigkeit sowie die Ausflüge und Aufführungen der Schule zu einem Brennpunkt, der nicht nur die Eltern der Schüler anzog, sondern auch Juden, die an den Aktivitäten teilnehmen wollten und aus ihnen Kraft schöpften. Auf diese Weise ermöglichte die Schule der gesamten jüdischen Gemeinde den Genuss kultureller Aktivitäten, vor allem Ausflüge in die Umgebung der Stadt und an den Ostseestrand zu einer Zeit zunehmender Einschränkungen.  Besonders populär war in der Gemeinde die wöchentliche Schabbatstunde, die jeden Freitag in der Schule stattfand. Alle Schüler und Lehrer der Schule versammelten sich in einem großen Saal, und nachdem sie die Aktivitäten im Unterricht der Woche zusammengefasst und verschiedene Probleme, die Disziplin der Schüler und anderes diskutiert hatten, öffneten sie die Türen des Saales, und die Eltern der Schüler sowie weitere Gemeindemitglieder kamen dazu. Zusammen sangen sie Lieder, lasen Geschichten und hörten sich Werke an, die die Schüler verfasst hatten. Der Erfolg der jüdischen Schule lag in ihrer Fähigkeit, bei Auseinandersetzungen innerhalb der Gemeinde durch Betonung des Vereinenden zu vermitteln, indem das Gefühl einer Schicksalsgemeinschaft geschaffen und die jüdische Tradition studiert wurde. Aus diesem Grunde wuchs die Anzahl der Schüler ausgerechnet während jener schweren Jahre. Auch dies kommt in dem Album, in einer Zeichnung, zum Ausdruck, die den Anstieg der Schülerzahl um mehr als 100% beschreibt, während viele der Gemeindemitglieder aufgrund der Verschlechterung der Situation der Juden begonnen hatten, aus Deutschland auszuwandern. Die verbleibenden Schüler sorgten mit Unterstützung ihrer Lehrer dafür, den Kontakt zu den Schülern, die die Schule verlassen hatten, aufrechtzuerhalten; ein Kontakt, der zwischen vielen Schülern, die überlebten, nach dem Krieg weitergeführt wurde. Dies wird deutlich in einer Zeichnung, die am Ende des Albums eingeklebt ist. Darauf beschreibt ein Schüler die Verbindung von Herz zu Herz zwischen den Schülern der Schule und ihren Freunden, die in andere Länder, besonders nach Eretz Israel, ausgewandert waren.

Die jüdische Schule 1938-42

Die Situation der Juden verschlechterte sich immer mehr, und das Leben in Deutschland wurde immer schwieriger. Mit der Novemberpogromnacht kam es zu einer Eskalation:

„In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 wurden wir gegen Mitternacht durch grossen Laerm auf der Strasse und in der anliegenden Synagoge aus dem Schlaf geweckt. Wir sahen durch die Fenster, wie der Nazipoebel in die Synagoge drang, die Thorarollen aus dem Schrank riss, die Synagoge systematisch zerstoerte und schliesslich anzuendete. Danach ueberfiel der Poebel – unter der Fuehrung von SS Leuten – das juedische Waisenhaus und trieb die Kinder auf die Strasse.“ (Zeugnis von David Kaelter)

Hunderte jüdischer Männer wurden festgenommen, unter ihnen auch der Schuldirektor Dr. Kaelter und seine Lehrer (sie wurden wegen der Kosten, die mit der Überführung durch den Polnischen Korridor verbunden waren, vor der Deportation in ein Konzentrationslager bewahrt). Zehn Tage später gelang es Kaelter, aus dem Arrest freigelassen zu werden, und auch die Lehrer der Schule freizubekommen.

Gemeinsam mit den Schülern nahmen sie in Räumen des Waisenhauses, die sie wieder herrichteten, den Unterricht wieder auf. Kaelter selbst emigrierte 1939 mit Frau und Sohn nach Palästina. Doch blieb er mit den Kindern der jüdischen Schule in Kontakt und es entstand ein reger Briefwechsel. So schrieb ein ehemaliger Schüler, der nach England ausgewandert war:

„Herr Kaelter, ich glaube ja dass sie schon viele von den Kindern aus unserer Schule gesehen haben. Es muss wirklich schön sein alle alten Freunde wieder zu finden.(…) Von unserer Schule habe ich auch schon lange nichts gehört. Wir haben uns jetzt alle überzeugt, dass unsere Schule die beste ist.”

Die Schule operierte unter zunehmenden Schwierigkeiten unter Leitung Rosa Wolfs, einer der Lehrerinnen der Schule, weiter, bis zu deren Ende im Jahre 1942, als die letzten Schüler mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert wurden. Die Direktorin Rosa Wolf weigerte sich, sich von ihren Schülern zu trennen, und wurde mit ihnen ermordet.

Bei Ende des Krieges verblieben nur vereinzelte Juden in Königsberg, hauptsächlich solche, die mit Nichtjuden verheiratet waren. 1948 vertrieben die Sowjets diese Juden zusammen mit den deutschen Bewohnern aus der Stadt, die zum sowjetischen Kaliningrad wurde. Das tragische Ende der Hunderte von Jahren alten jüdischen Gemeinde zu Königsberg geschah nicht aus Rat- und Hilflosigkeit. Im Gegenteil, es stellt ein herausragendes Beispiel für die Fähigkeit einer jüdischen Gemeinde dar, ihre Identität und ihre Werte gegenüber Wellen des Hasses und immer größeren Schwierigkeiten zu bewahren und zu pflegen. Das Album der jüdischen Schule von Königsberg bietet einen einzigartigen Einblick in diese Realität.